Eine Stadt am Meer

Am Bahnhof in Belgrad kann man auf manch Sonderbares treffen - auf eine alte Monarchistin zum Beispiel oder auf die Zeit, die nicht vergehen will

  • Miriam Sachs
  • Lesedauer: 9 Min.

Der Asphalt schmerzt. Jeder Tritt erschüttert, setzt sich nach oben hin fort, lässt den Rucksack hüpfen, die Bürde schubst mich voran: ein erdbebender Berg von unwichtigem Krempel, der durch Belgrad auf den Bahnhof zustolpert. Die vom Motorradauspuff verbrannte Wade (»Frau, ich hab doch gesagt, zieh die Jeans an!«) tut weh - noch mehr, dass Brasch recht gehabt hat, dass man nicht in Shorts Motorrad fährt. Dabei fährt man ja gar nicht. Man sitzt ja nur hinten, klammert sich fest an dir, Arschloch, obwohl ich mich lieber fallen ließe ins nächstbeste Meer.

Doch diese Stadt hat kein Meer. Endstation. Ich wollte nach Griechenland, aber es war ja klar, dass wir nicht so lange durchhalten. Bis kurz vor Triest war’s noch schön, aber als er nicht einmal Zeit für das tiefblaue Meer ließ! (»Frau, ich geh in kein Wasser, wenn’s nicht gekachelt ist!«) - Dann geh zum Teufel!

Miriam Sachs

Miriam Sachs ist Schriftstellerin und Theatermacherin und lebt in Berlin. Mit ihrem Ensemble »Film Riss Theater« sucht sie nach Schnittstellen zwischen Film, Theater und Literatur. Derzeit ist sie Stadtschreiberin in der fränkischen Kleinstadt Windsbach. Der nebenstehende Text entstand während eines Aufenthaltes in Belgrad, auf Einladung der Heinrich Böll Stiftung.
 

Die Straße zum Bahnhof ist breit; in der Mitte fahren dunkelgrüne Straßenbahnen. Sie sehen uralt aus, ein Geschenk der Schweiz. Die wollen die vielleicht nicht mehr, die alten Bahnen, die Schweizer. Ich will Brasch nicht mehr. Ich renn’ ihm davon. Vorbei. Vorbei an Peter Handke. Er sitzt im Morgenmantel in der Buchhandlung und blickt in die Ferne, als sei er gerade aufgestanden. In der Hand einen blauen Klassiker. Sein eigener. Handke schaut genau in diese entrückte Ferne, in der Brasch sich neben seiner Honda wahrscheinlich jetzt ’ne Zigarette dreht. Zum Teufel mit dir! Oder: bleib wo du bist.

Der Zug nach Thessaloniki fährt um 13.04 Uhr. Das kann man schaffen! Keinen Blick auf die Uhr werfen, keine Blicke in Schaufenster, nur aufs Pflaster sehen. Es geht abwärts. Nicht weinen. Als ich wieder aufsehe, liegt es vor mir, das Meer.

Belgrad am Meer! So blau wie das bei Triest. Ich stolpere, halte jetzt doch. Immer geahnt, dass hier ein Meer sein muss! Alles schreit nach einem Meer. Ein Meer wäre Linderung. Meine Seite sticht. Die Hitze lässt die Stadt flimmern! - vielleicht deshalb!

Die Stadt ist raffiniert. Überall hängen Plakate, die wie echt wirken. Erst Handke, dann dieses riesige Banner am Ende der großen Straße. Belgrad am Wasser steht drunter. Ich hätte nicht stehen bleiben dürfen. Die vermeintliche See hat mich aus dem Tritt gebracht. Ich haste weiter, das Plakat schrumpft zur popeligen Werbung für eine Bausünde. Ein neues Viertel mit phallischem Turm, hässlich und teuer. Dahinter der Bahnhof. Die Ampel ist rot. Riesige, schöne Frauen auf Bussen schieben sich an mir vorbei, verdecken die alten Ostblockbauten, die urälteren winzigen Häuser. Ich habe kurz gezögert - klar will ich, dass Brasch mir nachläuft, sich die Seele aus dem Leib rennen soll er! Dieses Seitenstechen kommt vielleicht doch auch von Herzen.

Wenn der Zug weg ist, wird man zu Brasch zurück müssen? Grün. Da liegt der Bahnhof. Pissgelb. Aber majestätisch und - es ist noch Zeit! Mehr als gedacht. Ich entkomme. Dahinrasen und rattern bis zur Stadt am Meer. Hineinfallen und drin bleiben, so lange man will. Noch eine Minute!

Das Portal, über dem die Uhr schwebt, eröffnet die andere Welt. Den Mosaiksteinboden mit den weißen Motorradstiefeln betreten, als seien es Tanzschuhe. Das Wort Kurschatten gedacht, und: Zahn der Zeit, dass der an allem nagt und so. Aber eigentlich wirkt es eher wie vor dem Schlimmsten bewahrt. Als hätte jemand den Atem angehalten und so lange der hält, bleibt alles bestehen.

Hinter der Halle, hinter der milchgläsernen Tür liegen die Gleise. Ich suche den Zug. Die Bahnhofsuhr zeigt 13.03 Uhr, eine Minute vor Abfahrt. Man hätte mit Gedränge und zu vielen Gleisen gerechnet, um das rechte zu finden. Aber hier sind kaum Leute: ein Gepäckträger, wenige Reisende - Stille.

Außer Atem lass ich mich fallen auf einen der Biergartenklappstühle unweit der Gleise; bei den Sonnenblumen, die wachsen am Ende der Schienen, als warteten sie nur auf ein Signal, um weiter zu wuchern. Ich starre auf den ausgedruckten Papierwisch mit den Abfahrtszeiten: Doch - rechte Zeit, rechter Ort! Ich sitze in diesem riesigen Hauptstadt-Bahnhof, im Rücken den Jahrhundertwende-Prachtbau, und seh auf nur zwei Gleise - drei, wenn man das stillgelegte dazurechnet, das mit dem uralten Eisenbahnwagen.

Und schon kommt ein Kellner, mit grüner Schürze und Schnauzbart und kneift die Augen zu Lachfalten zusammen. »Nicht weinen, trinken!«

Ich wein doch gar nicht! Freilich sehe ich verschwitzt aus. Und gleich kommt mein Zug, in nur einer Minute. Er winkt ab, Zeit für ein Bier sei immer. Er wirft einen Blick auf die Bahnstrecke, als sei nicht zu erwarten, dass der Zug nach Thessaloniki nicht auf sich warten ließe. »Also ein Bier?!« Es ist keine Frage, eher eine Feststellung. Ein Earl Grey wäre mir lieber. Aber das hab ich schon gemerkt: mit Tee haben sie es nicht so. Und das versteht man ja auch. Die haben hier andere Sorgen. Schon kommt das Bier, als hätte der Wirt es bereits hinter dem Rücken bereitgehalten.

Eine Dame steht unweit meines Tisches und schaut das Gleis entlang. Elegant, kerzengrade, das Sonnenschirmchen in ihrer Hand berührt sachte den Boden, sie stützt sich aber nicht drauf, sie steht von allein; als hätte man sie aus einem Bilderbogen ausgeschnitten und hierher geklebt. Seelenruhig steht sie da in ihrem viel zu langen Rock. Sie bewahrt ihre Form. Die lässt sich nicht gleich an den nächstbesten Biertisch fallen.

Ich stürze das Bier zu hastig hinunter. Sie blickt zu mir rüber. So majestätisch ist ihre Erscheinung, dass ich unwillkürlich aufstehe, wie ein höflicher Herr, der nun seinen Hut ziehen müsste. Ein paar Schritte gehen wir auf einander zu.

»Sie warten auch auf den Zug?« - Sie lächelt und nickt. Sie sei die Fürstin Natalia Obrenović, Königin von Serbien. Ich nehme das jetzt einfach mal hin. Ich erzähle ihr, dass ich mich auf einer Reise mit meinem Freund Brasch befände, ihn aber verlassen hätte, um alleine weiterzufahren nach Thessaloniki, ans Meer. Sie nickt. Schweigen macht sich breit, eher aus Verlegenheit sage ich, dass das hier ja ein schöner Bahnhof sei, aber irgendwie doch recht ruhig. Ich bemerke eine Falte zwischen ihren Augenbrauen. Sie streicht sich mit ihren weißen Spitzenhandschuhen das schwarze Haar aus der Stirn und lächelt dann doch. »Ja«, gibt sie zu, für einen so prächtigen Bahnhof - seinerzeit einzigartig und Knotenpunkt im Verkehrswesen - sei die Infrastruktur nun eher dürftig, die Gleise in keinem guten Zustand, die Fahrten langwierig und oft nicht schneller als damals, als der Bahnhof eröffnet worden sei.

Sie seufzt. Sie erinnere sich noch gut. Ich sage etwas Banales wie »Kann ich mir vorstellen!«, grüble aber doch, wann das wohl war. 19. Jahrhundert? Oder meint sie eine Wiederinstandsetzung? »Sie meinen: nach dem Krieg?«, rate ich mal. »Welchen Krieg?«, fragt sie. »Es war immer irgendein Krieg!«

»Hm.«

Der Bahnhof sei von ihrem Mann Milan I. in Auftrag gegeben worden. Sie fügt hinzu: Ex-Mann. Sie erzählt mir vom Hin und Her in ihrer Ehe. »Sie kennen das sicher, es gibt dann doch immer Gründe zu bleiben.« Ich stimme ihr zu. Erinnerungen, Blödheit, der Sex, die gemeinsame Urlaubskasse ...

»... die Thronfolge«. - Ja, oder das. Klar, manchmal muss man Kompromisse machen.

- Ob ich Kinder hätte?

Ich verneine. Brasch würde kein Kind wollen. Und ich eigentlich auch nicht. Ich will Motorrad fahren, ich will ans Meer.

»Kinder sind undankbare Bastarde. Maßlos überbewertet!«, bricht sie meinen Gedanken ab. Dabei hab ich gar nichts gesagt! »Egal!« Nun sei eh alles am Arsch.

Ich nicke unwillkürlich, überrascht über ihre Wortwahl. Aber man muss einfach zustimmen. Sie ist keine, die einfach nur rumjammert.

»Ist das auch Ihr Eindruck?«

»Weiß nicht so genau«, sag’ ich - und dass ich nur auf der Durchreise sei. So schlimm, wie ich dachte, sei die Stadt nicht.

»Arm ist sie!«, sagt sie. Und dass für die Armen die sorgen müssten, die viel haben.

»Aber wenig Bettler!«, wende ich ein. In den Bahnhöfen, die ich sonst so kenne, lungern viel mehr rum.

Sie lacht leise und sagt, dass sei, weil das Betteln hier nicht lohne. »Hier hat keiner was übrig.«

Ich bin beschämt von ihrem Feingefühl. Dabei ist sie doch Monarchistin! - Sie belächelt mich: Es bestünde ja wohl ein Unterschied zwischen Monarchin und Monarchistin!

Wieder schweigen wir. Tauben fliegen über uns hinweg, ein leichter Windhauch bewegt die Sonnenblumen. Und immer wieder starre ich auf die Bahnhofsuhr. Dass immer noch Zeit ist?!

»Seine Zeit ist um!« Sie sagt das so vor sich hin. Ich bin mir nicht sicher, wen sie meint - ihr Blick schweift über das Gelände.

»Der Bahnhof?«

Ob ich wüsste, dass er bald verlegt würde? Ob ich das Plakat gesehen hätte? Das mit Belgrad am Wasser?

Ja, hab ich! »Das neue Viertel wird hier gebaut?«, frage ich.

Sie stößt mit ihrem Sonnenschirm auf die kleinen Pflastersteine ein: »Genau hier, bis runter zum Fluss. Die Araber investieren hier. Millionenprojekt. Businessviertel, Luxusapartments. Securityanlagen ...« Sie spricht die Schlagworte in scharfem Ton. »Auch hier wird das Betteln nicht lohnen«, fügt sie hinzu.

»Aber das ist ja fürchterlich! Der schöne Bahnhof!«

Natalja winkt ab. Ihr Mann hätt’ es heute genauso gemacht: Prestigebauten, Bankrottgeschäfte. Land verhökern, ausverkaufen, sich mit Russland gut stellen, im Westen um Anerkennung betteln und Königstitel zulegen, nach Paris durchbrennen, abdanken, wieder ankriechen, in die EU wollen, oder auch nicht.

Ich könnt’ schon wieder heulen. Nicht wegen Brasch sollte man Tränen vergießen, sondern wegen der Vergänglichkeit im Allgemeinen. Sie sieht meine Ergriffenheit und schüttelt etwas peinlich berührt ihren Schirm. »So ist es nun mal!« Sie spannt ihn mit einem Ruck auf - und erinnert mich daran, dass ich mein Bier noch zahlen muss. Ich erröte. Natürlich zahle ich sofort.

Ich blicke verlegen auf die Uhr. Immer noch ist keine Minute vergangen. Wie ist das möglich? Ich habe das Gefühl, bereits eine Ewigkeit hier zu stehen. »Wann geht denn Ihr Zug?« fragt Natalia.

»Eigentlich in einer Minute«, flüstere ich - dieser Kloß im Hals! ich weiß auch nicht - wegen Brasch, wegen der Araber? Ich zeige auf die Uhr, sehe auf meinen Abfahrtsplan. Sie wirft einen Blick drauf: »13.04 Uhr?« Ihr Lächeln ist voller Mitgefühl. »Kindchen, es ist schon fast drei!«

Ich verstehe nicht.

»Die Uhr da geht nicht. Es ist schon seit Wochen 13.03 Uhr!«

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