Verstehen oder verurteilen?
In den gegensätzlichen Gutachten über Beate Zschäpe im NSU-Prozess spiegelt sich ein Dilemma der Urteilsfindung
Neben dem Streit über das Wegsehen der Verfassungsschützer und um die Tiefe der Wurzeln rechtsradikaler Morde in der deutschen Gesellschaft gibt es jetzt eine neue Frontlinie in dem Prozess gegen die einzige Überlebende des Terrortrios vom NSU. Der Kampf um die psychischen Hintergründe der Taten und der Mitverantwortung von Beate Zschäpe ist entbrannt. Wer genauer hinsieht, entdeckt hier auch den Riss, der quer durch die Helfer-Kulturen der Bundesrepublik geht.
Zuerst hatte der Psychiater Henning Saß - ein emeritierter Professor, der über Persönlichkeitsstörungen habilitierte - als vom Gericht bestellter Sachverständiger der 42-Jährigen volle Schuldfähigkeit attestiert. Seinen Sachverstand hatte Saß durch Beobachtung im Prozess und durch Studium der Akten gewonnen, denn die Begutachtete weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Saß entnahm den Aussagen von Zeugen, dass Zschäpe über ein »gesundes Selbstbewusstsein« verfüge und ihre Freunde »im Griff gehabt« habe. Das spreche für »Stärke und Selbstbewusstsein nach außen und gegenüber männlichen Partnern«.
Ein solches Vorgehen ist ebenso unbefriedigend wie manchmal unvermeidbar. Der Gutachter soll urteilen, die Begutachtete verweigert sich, irgendein Urteil muss gefällt werden, das wissenschaftlicher klingt, als es sein kann. In Bayern, wo gegen Beate Zschäpe prozessiert wird, hat dieses Verdikt nach Aktenlage einen schlechten Ruf und eine problematische Tradition. Der Psychiater Bernhard von Gudden, dessen Gutachten mit der Diagnose einer Geisteskrankheit König Ludwig II. um Amt und Leben brachte, hatte den König auch nicht gesprochen, nur gesehen - ein einziges Mal und, ironisch genug, anlässlich der Erhebung des verdienten Arztes in den Adelsstand. Von Gudden urteilte aufgrund von Zeugenaussagen und Aktenstudium - und er urteilte falsch. Ludwig II. von Bayern litt nicht an einer Psychose, sondern an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, wie sie heute (genauso aus der Ferne) Donald Trump unterstellt wird.
Von Guddens Gutachten war in seinem Ergebnis politisch erwünscht. Dieses Odium haftet seither an den vom Gericht bestellten Sachverständigen. Der Fall Gustl Mollath ist in frischer Erinnerung. Ein Mann wird übereilt und unverantwortlich der Forensischen Psychiatrie überstellt. Seine Verweigerung einer Kooperation mit den Nervenärzten führt nicht zu genauerem Hinschauen, sondern zu einer längeren Verweildauer in der Psychiatrie.
Dem Bürger ist ein Vorgehen suspekt, in dem ein Psychiater den Geisteszustand beurteilt und sich für das Einverständnis des Beurteilten nicht interessiert. Er ist sich keineswegs sicher, dass der hippokratische Eid auch in der Forensik gilt, und denkt an die Fabel vom Löwen, der seine Beute teilen soll: Er schlägt vor, das Los zu werfen, nach dem Motto: Bei Kopf gewinne ich, bei Zahl verlierst du! Wenn ich mich beurteilen lasse, erklärt mich der Arzt für gestört - und wenn ich mich nicht beurteilen lasse, erklärt er mich erst recht für gestört.
Im Fall Zschäpe hat sich die Sache gedreht. Der Beauftragte des Gerichts verteidigt die Normalität der Angeklagten und mit dieser ihre Schuldfähigkeit, der Beauftragte der Verteidigung attestiert eine »dependente Persönlichkeitsstörung«. Beide Gutachter sind anerkannte Experten. Und so wird sich das Gericht fragen: Wer hat recht?
Um das Dilemma besser zu verstehen, sollte man sich an den Unterschied zwischen »normativen Helfern« und »Beziehungshelfern« erinnern, der sich auch als Kontrast zwischen »alten« und »neuen« Helfern verstehen lässt. Die ersten arbeiten nach »objektiven« Regeln, die zweiten orientierten sich an einer »intersubjektiven« Beziehung. Etwas vereinfacht: In einer normativ orientieren Nervenheilkunde gilt die Diagnose des Experten, während in einer intersubjektiven gilt, worauf sich Experte und Patient einigen, womit beide einverstanden sein können. Sigmund Freud hat das sinngemäß so formuliert: Einen organisch Nervenkranken kann er behandeln, ohne sich auf eine persönliche Beziehung einzulassen, einen Neurotiker nicht.
Klassische normative Helfer sind Theologen und Juristen. Typische Beziehungshelfer sind Psychotherapeuten und Sozialpädagogen. Vor Gericht sind intersubjektive Beziehungen tabuisiert. Sie trüben das Urteil, behindern die Objektivität. In der Welt der Beziehungshelfer hingegen gibt es kaum einen schlimmeren Vorwurf als den, der Experte habe sich nicht auf eine Beziehung »eingelassen« und die Empathie verweigert. Wie will er dann arbeiten, wie kann er überhaupt verstehen, wie soll er einen kranken oder in seiner sozialen Anpassungsfähigkeit beeinträchtigten Menschen erreichen? Schon seit Langem ist bekannt, dass zum Beispiel der Erfolg einer Psychotherapie nicht so sehr von der angewendeten Technik, eher von dem Erlebnis einer »guten Beziehung« zum Helfer abhängig ist.
Der emeritierte Freiburger Professor Joachim Bauer steht der Welt der Beziehungshelfer deutlich näher als Henning Saß. Bauer wollte Beate Zschäpe Pralinen mitbringen, was selbst unter Beziehungshelfern nicht selbstverständlich ist. Die »humane« Geste führte dazu, dass die Medien den Mann mit Häme übergossen, weil er so wenig von Knastgebräuchen weiß. Aber anders als mit Saß hat Zschäpe mit ihm geredet und Bauer eröffnet, dass sie das Opfer der Beziehung zu einem gewalttätigen Mann ist, von dem sie sich nicht lösen konnte.
Bauer attestierte der Angeklagten eine schwere Persönlichkeitsstörung. Zschäpe sei krankhaft abhängig von Uwe Böhnhardt gewesen und folglich erheblich in ihrer Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt. Ihre krankhafte Bindung habe sie gehindert, Böhnhardt und Uwe Mundlos zu verlassen - trotz ihrer Abscheu gegen die Verbrechen ihrer Partner, trotz der Misshandlungen durch Böhnhardt.
Zwei mal zwei ist immer vier, aber psychiatrische Diagnosen können nach dem Wechsel eines Klinikdirektors auftauchen oder verschwinden wie Gespenster. Der kanadische Medizinhistoriker Edward Shorter hat das bereits für die legendäre Salpetrière in Paris beschrieben, wo während der Direktion von Jean Martin Charcot (1825 - 1893) zahlreiche Fälle von »großer Hysterie« diagnostiziert wurden, während unter seinem Nachfolger Jules-Joseph Dejerine kaum einer übrig blieb - weil der Chef die Diagnose nicht mochte.
Im Urteil der Beobachter ist Saß der unterkühlte, distanzierte Experte, der sich so verhält, wie Richter und Staatsanwalt es erwarten; Bauer hingegen der emotional zugängliche Therapeut, der Zschäpe mit Handschlag begrüßt und es absolut glaubhaft findet, wenn sie ihm erzählt, sie habe die Morde nicht gewollt und sei nur aus Angst bei den rechtsradikalen Mördern geblieben.
Die Berichterstatter vermuten, dass die Richter Saß bitten werden, Bauers Erkenntnisse in sein Gutachten einzuarbeiten. Es wird sich zeigen, ob Saß sich zu diesem Zweck persönlich mit Bauer auseinandersetzt oder ob ihm das Aktenstudium genügt.
Der Autor ist Psychoanalytiker und lebt in München. Er prägte 1977 in dem Buch »Die hilflosen Helfer« den Ausdruck »Helfer-Syndrom« und begründete 1983 die Unterscheidung zwischen normativen und Beziehungs-Helfern.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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