Scharfer Wind aus Osten

Von Renate Hürtgen

  • Lesedauer: 3 Min.

Die Erinnerung an die Nachwendezeit im Osten ist verbunden mit Kahlschlag, Massenentlassungen und rassistischen Ausschreitungen. Dabei waren die Jahre zugleich geprägt von einem beispiellosen Widerstand der Beschäftigten in ganz Ostdeutschland gegen die Politik der Treuhandanstalt. Die Belegschaften, die als eine der ersten mit ungewöhnlichen Maßnahmen auf die drohende Massenentlassung aufmerksam machten, kamen aus Großbetrieben des Industriegebietes Teltow. Sie blockierten im Juni 1990 eine Stunde lang die Fernverkehrsstraße zwischen Potsdam und Berlin. In den folgenden Jahren sollte es Tausende solcher Aktionen geben, selbstorganisiert von Belegschaften, mal mit, oft ohne Unterstützung von Gewerkschaften. Es gab Blockaden von Autobahnen und vor Ministerien, Protestdemonstrationen und spontane Warnstreiks, Besetzungen von Gruben und Betrieben, Hungerstreiks. Am bekanntesten die Hungerstreiks von den Kolleg/innen im Belfa-Batteriewerk Berlin und der Kalikumpel in Bischofferode. (Eine Chronik der Aktionen gibt es unter: dasND.de/betriebsraete)

Was war mit den im Klassenkampf nicht gerade erfahrenen braven Ostdeutschen geschehen? Die pure Verzweiflung war ausgebrochen. Seit dem Sommer 1990 erlebte Ostdeutschland infolge von Betriebsschließungen und Abbau von Arbeitsplätzen eine in dieser Größenordnung und Schnelligkeit noch nie dagewesene Entlassungswelle. »Großflugtag« wurden die Tage genannt, an denen wieder Hunderte in die Arbeitslosigkeit oder in »Auffanggesellschaften« entlassen wurden. Nach drei Jahren war die Anzahl der ostdeutschen Industriearbeitsplätze von 3,2 Millionen auf 760 000 geschrumpft.

Eine neue Dimension bekamen diese Kämpfe 1992 mit der Gründung einer Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute. Es war die politisch bedeutendste Form überbetrieblicher und überregionaler Selbstorganisation von unten, aus den Betrieben heraus, gegen die Sanierungs- und Privatisierungspolitik der Treuhand. Betriebsratsvorsitzende wichtiger Großbetriebe Ostberlins und der Ostdeutschen Wasserkante hatten sie, legitimiert durch ihre Belegschaften, gegründet. Nach zwei riesigen Entlassungswellen riefen Anfang 1992 die Betriebsräte von fünf Großbetrieben aus dem traditionellen Industriestandort Oberschöneweide eine Initiative gegen die Zerstörung der sanierungsfähigen industriellen Kapazitäten Berlins und gegen Privatisierung ins Leben. An der Küste hatten zeitgleich Betriebs- und Personalräte verschiedener Werften und regionale Gewerkschaften zu einem gemeinsamen Kampf gegen drohende Werftenstilllegungen aufgerufen. Diese beiden Aktionsbündnisse beschlossen, eine Konferenz ostdeutscher und Berliner Betriebsräte und Personalräte zu veranstalten, die am 20. Juni 1992 stattfand. Von den 300 Teilnehmer/innen waren 140 Betriebs- und Personalräte, die 80 Betriebe mit 107 000 Beschäftigten repräsentierten, davon zehn aus Westberlin.

Im Mittelpunkt der Konferenz in Berlin standen die Anklagen gegen den »Wahnsinn der Plattmache« seitens der Treuhandanstalt und die strukturvernichtenden Folgen für die Regionen. Ihre Forderungen: Sanierungsfähige Betriebe sind zu erhalten, Erhalt des Personalbestandes bei Privatisierung und demokratische Mitbestimmung bei Treuhandentscheidungen. Die Initiative beschränkte sich nicht auf Appelle und Verhandlungen hinter den Kulissen, sondern setzte auf branchen- und regionenübergreifende Proteste, auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit und der Betriebe. Legendär sind die Protestkundgebungen vor der Treuhand und ein »Marsch auf Bonn«. Es sollten noch zwei weitere Konferenzen stattfinden, Proteste und Solidaritätsaktionen. Die Massenentlassungen und die Zerstörung der ostdeutschen Industrie waren nicht aufzuhalten. Viele Betriebe, die sich 1991 und 1992 gewehrt hatten, gab es nicht mehr. Auf der 2. und 3. Betriebsräte-Konferenz 1993 lagen sogenannte Sterbelisten von eingeladenen Betrieben aus.

Die Forderungen der Beteiligten waren nicht umstürzlerisch gegen die kapitalistische Ordnung und auch nicht gegen Gewerkschaften gerichtet. Dennoch wurde diese Initiative zur damals größten politischen Herausforderung der politischen Machthaber, einschließlich der sozialdemokratischen Spitzen der Gewerkschaften. Sie tat das, was als historisches Versäumnis der Gewerkschaften bezeichnet werden kann: Sie organisierte einen Protest von unten, mobilisierte die Öffentlichkeit und gab so dem betrieblichen Widerstand einen notwendig politischen Charakter.

Renate Hürtgen ist im Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West aktiv, der heute und morgen mit einer Tagung in Berlin an diese Zeit der Selbstbehauptung erinnert.

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