Noch sind wir kaum Menschen

Der Philosoph Lucien Sève analysiert die »Verrücktheit der Verhältnisse«. Von Klaus Weber

  • Klaus Weber
  • Lesedauer: 5 Min.

Dieses Buch von Lucien Sève ist »anstößig« im besten Sinne: Zeile für Zeile hindert es mich daran, die Verhältnisse, in denen ich lebe, als vernünftig und »normal« zu betrachten. Davon handelt »Die Welt ändern, das Leben ändern«: Dass wir noch nicht Menschen geworden sind, weil die Verhältnisse es nicht zulassen. Die Verhältnisse, das meint: Kapitalismus. Wir Menschen: Immer als Un-Menschen in diesem Kreisen, Tanzen und Springen ums goldene Kalb, das uns nicht zu einem Leben kommen lässt in einer Welt, in der wir mit Milch und Honig sowie in Schönheit und Fülle leben könnten. Diese Welt soll uns gehören und wir uns ebenso, damit aus uns Menschen werden können.

Unerbittlich streitet Lucien Sève, französischer Philosoph und früheres Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei Frankreichs, für unsere Befreiung; dass wir Menschen uns all das (zurück-)holen, was uns in diesen kapitalistischen Verhältnissen geraubt wurde oder wir uns aus der Hand haben schlagen lassen: Ein Leben, das nicht eingepasst werden kann in die Verwertungsinteressen kapitalistischer Logik, sondern Reichtum und Fülle für alle bereithält. Sève zeigt die »›Verrücktheit‹ der gesellschaftlichen Verhältnisse« am Beispiel des Alters und des Altwerdens: Anti-Aging oder Wellnesskuren für Senioren auf der einen Seite; das langsame Sterbenlassen der »unproduktiven« alten Menschen auf der anderen Seite - selbstverständlich weiß er, dass dies die Folgen einer »antisozialen Politik« sind. Doch Sève stellt die Konstruktion des »alten Menschen« an sich in Frage, wenn er betont: »Das individuelle Leben ist zwar als natürliche Existenz unweigerlich eingeschränkt, die persönliche Biografie ist es als psychisches Abenteuer durchaus nicht.«

Jeder von uns lebt, als wäre er unsterblich - insofern sind wir alle psychische Abenteurer: grundsätzlich unendlich schöpferisch und fähig, die Welt zu erobern. Alles andere ist ideologische Konstruktion und soziale Praxis, damit die fürs Kapital »unproduktiven Alten« je nach Geldbeutel lautlos entsorgt oder ein letztes Mal als Objekt einer warenförmig gewordenen Gesundheits- und Fit-for-Life-Industrie zur Profitmehrung genutzt werden.

Sobald Marx mit der sechsten Feuerbachthese ins Spiel kommt, wird das Denken in Spannung versetzt. Das richtige Leben aber gibt es. Vielleicht nicht hier, vielleicht nicht heute, aber es gibt ein besseres, gerechteres Leben - daran kann kein Zweifel sein. Deshalb zweifeln wir täglich am Falschen, bis zum Verzweifeln. Sève baut sein ganzes Buch auf den Marxschen Feuerbachthesen auf: Denken, Handeln, Veränderung, Selbstveränderung, Theorie und Praxis, menschliches Wesen: Worte zu Sätzen gefügt, die leicht zu lesen sind.

Doch je näher man sie sich ansieht, umso ferner blicken sie zurück. Schließlich wird fast jeder Satz unverständlich, weil die Bedeutungsfelder der einzelnen Worte sich überlappen, den Sinn verschwimmen und verschwinden lassen.

Sèves ganzer Einsatz gilt der dritten und sechsten These: Die eine handelt von der Veränderung der Verhältnisse durch die je einzelnen Menschen, die selbst Produkte dieser Verhältnisse sind. Die andere davon, dass es kein menschliches Wesen (also keinen abstrakten Menschen) gibt und dass der je einzelne Mensch »in seiner Wirklichkeit das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ist. Hunderte von Fragen knüpfen sich an diese Thesen und Sève beantwortet geduldig eine nach der anderen: Wozu benötigen wir eine Psychologie, wenn alles durch ökonomische Verhältnisse weitgehend determiniert ist? Das Geheimnis der menschlichen Existenz, so Sève, ist dem Menschen nicht angeboren. Es liegt außerhalb seiner selbst, in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Und der wissenschaftliche Kampf zwischen einer Psychologie nach Sève und neurophysiologisch oder biologisch fundierten Psychologien ist selbst Ausdruck der Auseinandersetzung zwischen den affirmativen bürgerlichen Wissenschaften und einer herrschaftskritischen marxistischen Psychologie.

»Die Welt ändern - das Leben ändern« ist beim ersten Lesen kaum zu fassen. Sèves Buch ist streckenweise schwer zu verstehen, etwa seine voraussetzungsvollen Argumente für eine Biografie der Persönlichkeit. Denn dieses Buch beschreibt den Irrsinn der universitären Psychologie und es ist gleichzeitig der Versuch, dieserart Psychologie ein Ende zu bereiten. Es zeigt die Verwirrungen und den Schaden, den die Psychologie erzeugt und anrichtet, und es ist gleichzeitig der Ausweg aus dieser Wirrnis. Kein Gramm reales Leben verbirgt sich in den dicken Büchern der Psychologie, in den vielzähligen Forschungsdesigns ihrer Adepten; Menschen kommen darin lediglich als Material für bedeutungsleere Zusammenhangsannahmen vor - und das in einer Wissenschaft, die vom Menschen handeln sollte. Die Konstitution als Herrschafts- und Kontrollwissenschaft verhindert den Blick auf gesellschaftliche, sozio-ökonomische Strukturen, die auf der Bedingungsseite für menschliches Handeln einen guten Grund finden ließen, in gewissen Arbeits- und Lebenssituation Ärger, Zorn, Wut, Hass zu empfinden.

Jammern hilft nicht. Brecht schreibt, man müsse, um die Armen zum Widerstand zu bewegen, nicht ihre Armut skandalisieren, sondern über die festlich gedeckten Tische der Reichen reden und schreiben.

Das gilt auch für den Skandal des Mitlaufens und Zuschauens und die wissenschaftliche Produktion von Menschenbildern, die ohne reale Menschen auskommen. Und das gilt für die damit verbundene allgegenwärtige Weigerung, sein Leben in die Hand zu nehmen und es selbst zu bestimmen. Kein Glück, keine Liebe erfährt, wer nur geliked wird. Die Schönheit des Lebens und der Welt, die Freundlichkeit und Liebe der Menschen, das Glück des gemeinsamen Schaffens von neuen Dingen, die niemand vorgedacht hat - sie liegen in der Zukunft und sie liegen dort nur dann, wenn wir aus der Reihe tanzen, gegen den Strom schwimmen und die Geheimnisse dieser Welt suchen. Sèves Buch ist keine Anleitung dazu, aber Grundlage.

Der Autor ist Herausgeber des Buches: Lucien Sève: »Die Welt ändern. Das Leben ändern. Marxismus und Theorie der Persönlichkeit«, Argument Verlag, 540 S., 48 €.

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