Bilanz einer Ausstellung
Jenas schwarze Stunden
Mit der Ausstellung »Jenas schwarze Stunden« in der Goethe-Galerie wurde in den vergangenen zwei Wochen an Zeiten der »Kriege, Krankheiten, Katastrophen« erinnert. Texttafeln, Installationen und Objekte des Stadtmuseums brachten Augenblicke der Not und des Schreckens nahe. Die Flucht vor Krieg und Gewalt wurde zum Teil der eigenen Geschichte, wenn man sah, wie die Stadtbewohner 1806 vor plündernden Soldaten in den Griesbachgarten flohen, oder las, wie lange es gedauert hat, bis die »Umsiedler« nach 1945 auch in Jena eine Heimat fanden.
In ein Gästebuch konnten die Besucher einschreiben, was sie einpacken würden, wenn sie nur einen Koffer mitnehmen dürften, um ihr Leben zu retten. Die Eintragungen sind in vielfachem Sinne erschreckend. Nicht die Kofferinhalte erstaunen. Die meisten denken an praktische Dinge: Papiere, Geld, Kreditkarten, Fotos, vielleicht noch ein trostspendendes Buch. Doch viele schrieben darüber hinaus, was die Ausstellung in ihnen auslöste.
Älteren Besuchern ging die Erinnerung an 1945 unter die Haut: »Wir dürfen nicht vergessen, wie es damals war«, schreibt eine Besucherin: »Leutrastraße, Eichplatz, Johannisstraße, da ging die Jenergasse ab, in der ich geboren und am 19. März 1945 ausgebombt wurde. Das darf nicht wieder kommen.« Ein 85-Jähriger: »Was haben unsere Vorfahren durchgemacht! Wir hatten nur einen Rucksack u. willkommen waren wir hier auch nicht!«
Solche Einträge berühren den Leser, doch dann heißt es: »Das waren noch die echten Flüchtlinge, eben Europäer, heute kommen Invasoren nach Europa ...« Wenig später: »Flüchtlinge sollen zu Hause bleiben und selbst Ordnung schaffen, nicht in Deutschland schmarotzen.« Und schließlich: »Hunde haben, was manche Menschen nicht haben: Charakter!«
Da gefriert das Blut, wenn über eine Seite hinweg drei Worte prangen: »Frei / Sozial / National«. Was hilft es, wenn »National« von einer anderen Hand durchgestrichen und mit einem Fragezeichen versehen wird? Die Gesinnung bleibt in den Köpfen und wir müssen dankbar sein, dass sie durch solche Gästebücher kenntlich wird. Genügt es, wenn eine Besucherin schreibt, sie finde es »scheußlich, wie hier teilweise über Flüchtlinge geschrieben wird«? Bräuchten wir darüber nicht eine öffentliche und offene Auseinandersetzung?
Am Ende der Ausstellung gab es in der Goethe-Galerie ein Podium über die Frage, ob der Bau eines erstklassigen Stadions für einen drittklassigen Fußballverein Steuerverschwendung sei. Sollten wir nicht an gleicher Stelle über die Frage debattieren, ob Flüchtlinge Schmarotzer sind, die »mit fremden Steuergeldern durchgefüttert« werden?
Der letzte Eintrag im Gästebuch lautet, erneut über eine ganze Seite gezogen: »Wir / sind / das / Volk!« Stimmt das?
Unser Autor kuratierte die Ausstellung »Jenas schwarze Stunden«.
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