Das Leuchten der Fackel
Warum Klassenpolitik ohne Demokratie nicht zu haben ist: über Bernie Sanders »Revolution«
Es gibt Politiker, die kannte jahrelang kaum ein Mensch. Und dann plötzlich wird ihr Name zu so etwas wie einer international strahlenden Fackel, die anderen als ein Leuchten der Hoffnung erscheint. Auf der linken Hälfte des politischen Koordinatensystems gehört Jeremy Corbyn derzeit zu diesen Menschen.
Alexis Tsipras stand auch einmal auf der Liste, doch die politische Leuchteigenschaft eines Namens ist sehr flüchtig. Geht es im Wahlkampf mit der Zustimmung aufwärts, wird das Licht zunächst greller. Muss man dann wirklich in eine Regierung, bläst meist starker Wind schon bald die Fackel aus.
Bernie Sanders muss sich davor nicht fürchten. Der Sozialist aus den USA war schon in der Vorwahl Hillary Clinton unterlegen.
Dass der Parteilose Senator die gestandene Demokratin politisch hart attackierte, ist so richtig, wie man von ihm erfahren kann, dass er die Ex-Außenministerin »respektierte und als Person mochte«. Sanders drückt sogar Hochachtung aus. Seine strikte Gegnerschaft in politischen Kernfragen berührt das nicht. Er trat in der Vorwahl an gegen eine der Clintons, die er »Demokraten für die feinen Leute« nennt. Er verlor. Clinton verlor. Und dann erschien Sanders Buch »Our Revolution: A Future to Believe In«.
Die anderen, Donald Trump und Hillary Clinton, hatten ähnliche Bücher während der Kampagnen herausgebracht. Bücher, die Punkte im Wahlkampf bringen sollten. Bernie Sanders‘ Buch hätte das sicher auch geschafft. Aber es wäre nicht nach der Art von Politik gewesen, die er im Sinn hat. So sehr Sanders für soziale, ökonomische, kulturelle Veränderung plädiert, so sehr weiß er, wie lang der Weg in Wahrheit ist. Dass es keine Abkürzungen geben kann. Vor allem keine, bei denen sich das Ziel durch den Weg verändert, den man einschlägt.
»Unsere Revolution« ist ein klassisches Politikerbuch. Die Kindheit in New York in der Familie jüdischer Einwanderer, bei der das Geld knapp war und die Zahl der Bücher klein. Der Bruder, der zum Lehrer wurde, die Neugier auf das Leben, der Aufstieg aus der Unterschicht. Der Einstieg in die Politik, das Lebensthema Bürgerrechte, die Karriere, die ihn auf ganz und gar nicht gradlinigen Wegen bis ins Repräsentantenhaus und in den Senat führte. Und dann ein politisches Programm – für bezahlbare Bildung und ein wirksames Gesundheitssystem für alle, für Klimagerechtigkeit und eine »echte Strafrechtsreform«. Auf der Seite der Schwachen, mutig gegen die Interessen der Starken. Die Fackel Bernie Sanders, die man so gern leuchten sieht. Das ist die eine Seite dieses Buches.
Die andere ist, womit Sanders, der demokratische Sozialist, nicht eben zufällig seine politische Agenda beginnen und enden lässt – mit dem Thema Demokratie. Er kann so drastisch mit Korruption, Lobbyismus, Vetternwirtschaft, Postdemokratie und was es sonst noch alles für real existierende Gebrechen gibt zürnen wie er nie auf die Idee kommen würde, die aus der Aufklärung gewachsenen, in der Verfassung verankerten Institutionen herabzuwürdigen.
Jede Neigung, die sich vom Zusammenbruch der bestehenden Verhältnisse einen phönixartigen Direktflug in eine bessere Welt verspricht, ist ihm fremd. Als er unlängst einmal darauf angesprochen wurde, dass der linke Philosoph Slavoj Žižek aus solchem Grunde mit der Idee sympathisiert, Trump das politische System zugrunde richten zu lassen, weil danach ein »echter« Neuanfang möglich sei, wurde Sanders sogar laut. »Oh my goodness!«, sagte er und fragte zurück, ob man so etwas im Deutschland in den frühen 1930er Jahren nicht auch schon vernommen habe. »Stimmt’s?« Und noch einmal lauter: »Stimmt’s?«
Es stimmt. Und so kann man aus »Unsere Revolution« am ehesten lernen, dass es einen Sprung aus der Geschichte so wenig gibt wie es ein Fehler wäre, den Stand des in vielen Jahrzehnten engagierter Kämpfe für soziale und Freiheitsrechte Erreichten bei der Beurteilung der aktuellen Missstände zu vergessen.
Bernie Sanders spricht von »Perfektionierung unserer Demokratie« und weiß darum, dass man diesen Weg »noch lange nicht bis an sein Ende gegangen« ist. Und er weiß auch, dass man auf diesem Weg nicht dadurch vorankommt, die Demokratie als Vehikel der kapitalistischen Interessen bloß zu verreißen. Sondern indem man denen, die dabei sind, »jene Fortschritte, die wir bereits erzielt haben«, rückgängig zu machen mit ihrem Geld, ihrer Macht, ihrem Einfluss, mit gekauften Politikern und veröffentlichter Meinung, etwas Kraftvolles entgegensetzt. Bernie, die Fackel.
Sanders macht hier einen Punkt, der mal gegen die soziale Frage ausgespielt, mal in einer Karikatur linker Staatskritik versenkt wird – nennen wir diesen Punkt: das Abendroth-Moment aktueller Kämpfe. Es ist das, was Klassenpolitik im Sinne des großen sozialistischen Politologen zu einer demokratischen macht. Die Überzeugung, dass verfassungspolitische Errungenschaften verteidigt werden müssen, weil sie eine schon erreichte »Klassenkampfwaffenstillstandslinie« (Alex Demirovic) verkörpern, von der aus die Möglichkeit gegenüber früheren Zuständen weit eher gegeben ist, zu noch weiterer Demokratisierung zu gelangen.
Eine Demokratisierung, die nicht nur die Sphäre des unmittelbar Politischen betrifft, sondern auch in die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums hineingreift. Das ist die »Revolution«, von der Sanders spricht, eine, die das Erbe der letzten großen historischen Umwälzung nutzt und weiterspinnt. Eine auf Dauer gestellte.
Was Sanders dazu formuliert, trifft vor allem auf US-amerikanische Zustände zu, und die gibt es nicht erst seit Trump. Es geht um Wahlrechtsgleichheit, ohne die Demokratie immer defekt ist. Es geht um die Gleichheit vor dem Gesetz. Um Gesetze gegen die Möglichkeit, Politik zu kaufen. Gegen die Oligarchisierung des Politischen, die Verkehrung des Primats gegenüber der Ökonomie.
Was Sanders im Grunde meint, trifft aber auch auf andere Kämpfe um eine bessere Welt zu. Es gehört zu den Ähnlichkeiten vieler linker Aufbrüche, in denen Politiker zu Fackeln der Hoffnung werden, dass es dort nicht nur um die Wiedereroberung der sozialen Frage geht, sondern um die Erkenntnis, dass man dafür ein Spielfeld mit Regeln braucht, in dem die Interessen der Mehrheit Ausdruck finden können, indem sie die Interessen der Minderheit respektieren. Jeremy Corbyn oder einer seiner Nachfolger wird keinen Erfolg haben, wenn das britische Wahlsystem nicht demokratisiert wird.
Gleiches gilt für die linken Aufbrüche in Frankreich. Podemos in Spanien hat die Verfassung nicht umsonst zu einem zentralen Punkt gemacht. Tsipras in Griechenland kämpft keineswegs nur gegen die Gläubiger, sondern auch gegen eine rückschrittliche Demokratie, die Klientelismus fördert.
»Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft« schreibt Sanders. Was er am real existierenden Kapitalismus kritisiert, werden viele unterschreiben können. Eine Kraft werden diese Vielen aber in der praktizierten Demokratie. Er sei, schreibt Sanders, »am Ende meines Wahlkampfes weit optimistischer in Bezug auf die Zukunft unseres Landes als am Anfang«.
Dann kam Trumps Sieg, aber der Sozialist aus Vermont hat seine Meinung dazu nicht geändert. Er hat gesehen, was möglich ist: bei Bürgerversammlungen, auf Demonstrationen, in kommunalen Räten. Und was da als Möglichkeit aufschien, hat man auch ihm zu verdanken. Die Fackel Sanders leuchtet noch.
Bernie Sanders: Unsere Revolution. Ullstein. 464 S., geb., 24 €.
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