Der Schweiß der Solidarität
»Recht, Gesetz, Gerechtigkeit«: Die türkische Opposition trotzt bei ihrem Protestmarsch dem autoritären Herrscher Erdogan - und der Hitze
Kemal Kilicdaroglu geht raschen Schrittes, als er sich zur 17. Etappe seines »Marschs für Gerechtigkeit« von Ankara nach Istanbul aufmacht. Der türkische Oppositionsführer hat noch einen weiten Weg zurückzulegen, und er weiß, wofür er marschiert. »Recht, Gesetz, Gerechtigkeit«, skandiert die Menge, als sich der 68-Jährige am Samstagmorgen an die Spitze des Zuges setzt. Mehr als 10.000 Menschen sind an diesem Tag zu dem Marsch gekommen, der zunehmend zum Problem für Präsident Recep Tayyip Erdogan wird.
Gekleidet in ein frisches weißes Hemd, grüßend nach links und rechts, marschiert Kilicdaroglu seit dem 14. Juni in Richtung Istanbul. Begonnen hat der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) den Marsch aus Protest gegen die Inhaftierung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoglu, der wegen eines Artikels über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an islamistische Rebellen in Syrien zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war.
Den Menschen, die auf der rechten Spur der Schnellstraße marschieren, kleben bei Temperaturen von 38 Grad bald die weißem T-Shirts mit der Aufschrift »Adalet« am Rücken. »Adalet« heißt Gerechtigkeit und ist der einzige Slogan dieser Demonstration, auf die Präsident Erdogan zunehmend wütend reagiert. Mit seinem Marsch unterstütze Kilicdaroglu »Terroristen« und überschreite die Kompetenzen der Opposition, schimpfte der Präsident am Samstag.
»Gerechtigkeit« ist ein abstrakter Begriff, doch viele der Marschierenden können eine persönliche Geschichte dazu erzählen. Unter ihnen sind Gewerkschafter, Journalisten, Anwälte und Lehrer, die seit dem Putschversuch vom 15. Juli um ihren Job fürchten, ihn bereits verloren haben oder wegen ihrer politischen Einstellung keine Arbeit finden. Die Festnahme Berberoglus machte ihnen endgültig klar, dass die Regierung auch vor der größten Oppositionspartei nicht länger halt macht.
»Die Festnahme von Berberoglu war der letzte Tropfen«, sagt Kilicdaroglu während der Mittagspause der Nachrichtenagentur AFP. »Doch dieser Marsch ist nicht nur für ihn, sondern für alle inhaftierten Journalisten und alle Menschen, die Gerechtigkeit suchen.« Nach den Monaten des Ausnahmezustands, da die Freiheiten immer weiter eingeschränkt wurden, sei der Marsch für seine Landsleute eine Gelegenheit, sich aus dem »Korsett der Angst« zu befreien, sagt er.
Viele der Demonstranten laufen nur einen Vormittag mit, andere folgen Kilicdaroglu bereits von Anbeginn. Tags marschieren sie durch die Hitze. Nachts übernachten sie am Straßenrand - der Parteivorsitzende mit seiner Entourage in Wohnwagen, der harte Kern seiner Anhänger unter Zelten auf dem Boden. Die Infrastruktur sowie das Wasser und Essen werden abwechselnd von Kommunen unter CHP-Verwaltung gestellt. Ein riesiger Aufwand, je größer die Menge wird.
Am Wegesrand trifft der Marsch auf gemischte Reaktionen. Manche Autofahrer feuern die Marschierenden an, andere schimpfen - und das nicht nur, weil der Marsch einen kilometerlangen Stau verursacht. In beiden Fällen reagieren die Demonstranten mit Applaus. »Lasst euch nicht provozieren«, hat Kilicdaroglu seinen Anhängern eingeschärft. Auch dank ihrer Zurückhaltung ist bislang alles friedlich geblieben, und auch Erdogan lässt sie bisher gewähren.
Am Morgen des 17. Tages entrollen die Demonstranten eine türkische Flagge, die sich hunderte Meter die Landstraße entlang erstreckt. Schöne Bilder ergibt das, und ein wenig Schatten spendet die Fahne auch. »Recht, Gesetz, Gerechtigkeit«, rufen die Demonstranten und marschieren dann schweigend und schwitzend weiter unter der brennenden Sonne. 280 Kilometer haben sie seit Ankara zurückgelegt, 140 bleiben noch bis zum Gefängnis von Maltepe in Istanbul, wo Berberoglu inhaftiert ist. AFP/nd
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