»Die radikale Linke darf nicht mit Merkel kuscheln«

Philosoph Thomas Seibert über die Ziele linker Proteste beim G20-Gipfel und mögliche Folgen für den dritten Pol

  • Elsa Koester und Simon Poelchau
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie haben 2007 die Blockaden gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm mit organisiert. Jetzt wollen Aktivist*innen den G20-Gipfel in Hamburg blockieren. Ist die Linke in zehn Jahren keinen Schritt weiter gekommen?
Ja. Es ist zehn Jahre später und alles sieht so aus, als wäre zwischenzeitlich nicht viel passiert.

Sie finden die Gipfelproteste nicht richtig?
Sie zeigen, dass die Linke nicht auf der Höhe der Zeit ist. Aber richtig sind die Proteste gegen die G20 trotzdem.

Zur Person

Thomas Seibert ist Philosoph und Autor, Mitarbeiter von Medico International, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Rosa Luxemburg-Stiftung und politischer Aktivist. Er ist zudem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne, das ist eine Programmwerkstatt für neue linke Politikkonzepte. Mit Seibert sprachen Elsa Koester und Simon Poelchau.

Foto: Jürgen Weber

Wie würden Sie die Höhe der Zeit beschreiben?
Zum ersten Mal seit Ende der 70er Jahre sind wir in einer offenen politischen Situation. Damals brach der 1968er Prozess ab und eine modernisierte kapitalistische Herrschaft wurde für lange Zeit unanfechtbar. 1989 stiftete da zwar Unruhe, verstärkte dann aber die Schließung, verdichtet im Topos vom Ende der Geschichte.

Seit den globalisierungskritischen Protesten in Seattle wissen wir aber, dass eine andere Welt möglich ist.
In Seattle 1999 artikulierten sich erste Risse, doch blieb die Situation vor jeder radikalen Anfechtung verschlossen. Die Krise 2007/2008 änderte das, seither haben sich die Verhältnisse epochal geöffnet. Wir haben ein Machtzentrum, das instabil geworden ist, eine politische Ordnung - repräsentative Parteiendemokratie -, die weltweit weitgehend diskreditiert ist.

In Frankreich herrscht mit Macrons absoluter Mehrheit der Neoliberalismus, in Deutschland gibt es weit und breit keinen Aufstand gegen Merkel. Was ist daran offen?

Man muss unterscheiden zwischen epochaler Offenheit und aktuellen Konjunkturen. Das, was in Frankreich geschieht, ist ein Symptom für die Offenheit der Verhältnisse.

Das müssen Sie erklären.
Dass jemand wie Macron, ohne viel vorzuweisen zu haben, solche Ergebnisse erzielt, ist Ausdruck fundamental instabiler Verhältnisse. Die alten Lager - Mitte-links und Mitte-rechts - sind aufgehoben. Macron ist immerhin ein Präsident, dessen erste Amtshandlung darin bestand, sich für die französische Kolonialgeschichte zu entschuldigen, der linke Positionen besetzt.

Moment mal, das gilt vielleicht für den Antirassismus, Feminismus. Aber gleichzeitig steht Macron für die Zerstörung von Arbeitsrecht, für Prekarisierung.
Das bestreite ich ja nicht...

Das können Sie doch nicht links nennen!
Ich bin ja nicht bescheuert. Aber im Unterschied zu bisherigen Artikulationen neoliberaler Politik hat er sich in einer ganzen Reihe von anderen Fragen »links« geäußert. Die Krise zwingt den Neoliberalismus, sich neu zu artikulieren. Und: Sie zeigt die Krise der Linken, die in manchen Hinsichten hinter Macron zurückbleiben.

Wie sieht das linke Lager in Deutschland aus?
In Deutschland hat sich die traditionelle Links-Rechts-Aufteilung SPD-CDU 1998 erstmals nach links hin geöffnet. Nach der Durchsetzung von Rot-Grün und dem totalen Backlash bildete sich ein Riss zwischen der ersten rot-grünen Regierung und Teilen ihrer gesellschaftlichen Basis. Trotzdem haben wir seither, arithmetisch gesehen, Schwarz-Gelb auf der einen und Rot-Rot-Grün auf der anderen Seite. Rund 30 Prozent der Leute sprechen sich stabil für eine rot-grün-rote Regierung aus.

Wofür steht dieses dissidente Drittel politisch?
Es setzt sich, grob gesprochen, aus Individuen zusammen, die die emanzipatorischen Veränderungen der Epoche nach 1968 ausdrücklich bejahen. Die in wesentlichen Momenten von Globalisierung, Individualisierung, Urbanisierung und Fragmentierung Freiheitspotenziale entdecken.

Was Sie beschreiben, ist doch eine Mischung aus dem neoliberalen und dem linken Lager.
Ja, völlig richtig. Darin liegt die politische Unreife des gesellschaftlichen dritten Pols, der sich zwischen dem klar neoliberalen und dem autoritär-rechten Pol findet. So gibt es Leute, die eine offene Einwanderungsgesellschaft bejahen, die gut wissen, wie schwierig das wird, auch deshalb Merkel nicht ganz schlecht finden und sich mit einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik arrangieren können. Trotzdem sind das Leute, die von links her ansprechbar sind.

Klassenfragen sind für die Bildung des linken Lagers irrelevant geworden?
Nein, überhaupt nicht! Im Gegenteil. Die Menschen fragen sich ausdrücklich, in welchen sozialökonomischen Verhältnissen sie eigentlich leben wollen.

Das sind dann aber moralische Fragestellungen, keine Klassenpositionen.
Nein! Das sind zutiefst politische Fragestellungen. Die Zuschreibung »objektive Klassenposition ist gleich subjektive Klassenposition« ist eine Konstruktion. Die vielen Jugendlichen, die in Großbritannien Labour unterstützen, tun das nicht aus der Artikulation ihrer Klassenposition heraus, sondern weil sie das, was seit dem Brexit geschehen ist, schockierend finden. Weil sie sich zum Beispiel an Reisefreiheit gewöhnt haben, die sie auch anderen zugestehen. Die wählen doch Labour nicht wegen »Klassenpolitik«, das ist ein Irrtum!

Wenn das linke Lager so widersprüchlich ist - könnte es sich dann an den G20-Protesten eher aufspalten, als dass es dabei zusammen kommt? Es knallt auf den Straßen von Hamburg, während Merkel mit Trump und Erdogan auf dem Gipfel sitzt. Auf der einen Seite die medial hochstilisierten sogenannten linken Gewalttäter, auf der anderen die rechten Antidemokraten. Und Merkel kann sich als vernünftige, liberale Mitte positionieren. Stärker denn je
...und gewinnt dafür sogar Zustimmung bei Leuten, die sich prinzipiell zum solidarischen Pol rechnen. Ja, ich würde das genau so sehen. Genau das macht die Gefährlichkeit der offenen Situation aus, in der wir sind. Die politischen Positionen sind zum Teil widersprüchlich. Worauf es ankommt: dass sich die G20-Proteste zu einem starken linken Gesamtbild fügen.

Wieso?
Die radikale Linke kann nicht mit Merkel kuscheln. Es ist ihr eigenster Auftrag, Unterbrechungen herbeizuführen, in denen ein radikaler Widerspruch hörbar wird.

Der reine Widerspruch reicht aus? Ohne Vorschlag, wie es besser laufen kann?
Wir reden hier von radikal linker Politik. Ein Beispiel: Die japanische Studierendenorganisation der 1968er hieß Zengakuren und hat militante Straßenschlachten organisiert. Ihre einzige Parole war: Die Zengakuren kämpfen! Die haben nicht gesagt, wofür oder gegen wen, sie haben einfach nur festgestellt: Die Zengakuren kämpfen. In dieser Behauptung, in der Aussetzung der Routinen und in der Artikulation eines Widerspruchs, der nicht mit sich verhandeln lässt, liegt einer der wesentlichsten Momente linksradikaler Politik.

Okay, für die radikale Linke. Aber sind Gipfelproteste der richtige Ort, an dem die breite solidarische Linke zusammenkommen kann?
Ja. Die Zusammenkunft vieler Linker in einer Ausnahmesituation war immer ein Effekt erfolgreicher Mobilisierungen. Wir rechnen mit über 100 000 Menschen. Die größte Errungenschaft der Linken der letzten 20 Jahre ist die stabile und oft gelingende Kommunikation zwischen ihren moderaten und radikalen Strömungen. Diese Situation ist historisch neu und ein wesentlicher Gewinn der ersten globalisierungskritischen Phase.

Wo wird in Hamburg gelingend kommuniziert? BUND und Campact demonstrieren am Sonntag, die Linksautonomen am Donnerstag, die Postautonomen am Freitag, die Linkspartei am Samstagmittag und die Hamburger SPD und Grünen am Samstagnachmittag.
Ja, diese Aufspaltung ist ein Ausweis der Schwäche. Sie zeigt, dass die Linke die politisch offenen Situation noch nicht für sich entscheiden kann, dass sie sich zu wenig zutraut.

Sie sagten anfangs, die Linke sei nicht auf der Höhe der Zeit.
Richtig. Denn eine siegesbereite Linke muss auch in der Lage sein zu regieren.

Die Linke muss gleichzeitig auf der Straße rebellieren und mit der SPD gemeinsame Sache machen?
Wann, bitteschön, waren die Verhältnisse denn offen für einen breiten Streit über das, was die linke Hälfte der Gesellschaft von einem rot-rot-grünem Bündnis einfordern könnte? Man darf das Spiel nicht unernst spielen.

Uns scheint, die einzigen, die noch über ein rot-rot-grünes Projekt streiten, sind die LINKEN.
Rot-Rot-Grün würde nach den gegenwärtigen Bedingungen nur noch als Unfall zustande kommen, als etwas, das die Akteure eigentlich nicht wollen, aber wozu sie vielleicht getrieben werden. Wenn von der SPD über die Grünen bis zur LINKEN alle Parteien nicht in der Lage sind, die gegebenen Chancen zu ergreifen, stellt sich die Frage, was man tun muss, um sie zu nutzen. Ich glaube nicht, dass Bewegungspolitik da die einzige Antwort sein wird.

Welche Rolle spielt die Bewegung denn für das linke Lager?
SYRIZA wurde zur politischen Option, als eine zwei-, dreijährige Bewegungskonstellation mit fortlaufenden Massendemonstrationen, Platzbesetzungen, Generalstreiks sich erschöpfte. Die Kämpfe selber entwickeln die Idee einer Verlagerung auf die Ebene institutioneller Politik. Das Gleiche in den USA um Sanders, das Gleiche in Spanien, Portugal.

SYRIZA ist nicht weit gekommen.
Dass SYRIZA innerhalb eines halben Jahres niedergeworfen wurde, ist konjunkturell eine Tragödie, epochal bedeutet es meines Erachtens wenig. Es gibt erstmals wieder Experimente mit einer linken Antwort. Das halte ich für eine extreme Stärke. Es geht jetzt um den Einstieg in den Ausstieg aus dem Neoliberalismus, und schon da um Sieg oder Niederlage.

Fahren Sie nach Hamburg?
Ja.

Warum?
Die Alterglobalisierungsbewegung muss weitergehen. Nur Weltoffenheit trägt Freiheit in sich. Wie Hölderlin schrieb: »Komm! ins Offene, Freund!«

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