Der fast vergessene Krieg

Eine Ausstellung in Paris erinnert an einen deutsch-französischen Waffengang

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine Ausstellung im Pariser Armeemuseum, das sich in dem unter Ludwig XIV. errichteten ehemaligen Militärkrankenhaus und Veteranenheim Hotel des Invalides befindet, erinnert gegenwärtig an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Während dieser Krieg, der die von Bismark vorangetrieben Einigung der deutschen Staaten vollendete, in Deutschland zum Allgemeinwissen gehört, ist er in Frankreich weit weniger bekannt und wird auch in den Schulbüchern nur kurz gestreift. Umso verdienstvoller ist diese umfangreiche und sehr instruktive Ausstellung, die mit vielen Originaldokumenten, Fotos, Uniformen, Waffen und Ausrüstungsgegenständen, aber auch mit zahlreichen Gemälden, Stichen und Karikaturen den Konflikt zwischen beiden Ländern anschaulich macht.

Da viele Exponate aus deutschen Museen stammen und zum 150-jährigen Jubiläum 2020 nicht zur Verfügung stehen würden, weil für dann auch in Deutschland eine große Ausstellung zu dem Thema geplant ist, hat das Pariser Armeemuseum seine Ausstellung kurzerhand vorgezogen. Um den Krieg zu verstehen, der Franzosen und Deutsche zutiefst entzweite und dessen schmähliche Niederlage in Frankreich ein tiefes Trauma auslöste, dort aber auch Ausgangspunkt für eine Welle patriotischer Erziehung, militärischer Kräfteanstrengungen und einer stetig geschürten Revanchestimmung war, erläutert die Ausstellung zunächst die Entwicklungen, die zu diesem Krieg geführt haben.

Nach den ersten beiden »Einigungskriegen«, in die Bismarck Preußen 1864 und 1866 geführt hatte, provoziert er bewusst den dritten, seiner Meinung nach für die Einigung der deutschen Staaten unterlässlichen Krieg gegen Frankreich, indem er mittels der von ihm verfälschten »Emser Depesche« den französischen Kaiser herausfordert. Napoleon III. reagiert, wie von Bismarck vorausgesehen, mit einer Kriegserklärung gegen Preußen, zumal er von der militärischen Überlegenheit Frankreichs überzeugt ist. Preußen kann sich also als Angegriffener darstellen und gewinnt die Unterstützung der zuvor zögerlichen süddeutschen Länder Bayern, Württemberg, Baden und Hessen.

Gleich der erste Kriegsmonat bringt für die deutsche Seite unerwartet schnelle und militärisch entscheidende Erfolge in den Schlachten von Reichshoffen, Gravelotte und Sedan. Auf französischer Seite offenbart das Desaster eine völlige Selbstüberschätzung und grobe strategische Fehler, veraltete Militärtechnik und andere Mängel der Armee. Beispielsweise verstehen viele Soldaten die Befehle ihrer Offiziere nicht, weil sie kein Französisch beherrschen, sondern Bretonisch, Baskisch, Okzitanisch oder andere Regionalsprachen sprechen. Zudem können die meisten Soldaten und auch viele Unteroffiziere weder lesen noch schreiben. Auch an patriotischer Erziehung mangelt es, und entsprechend gering ist die Kampf- und Opferbereitschaft. Übrigens führen die Lehren daraus nach dem Krieg zu einer grundlegenden Reform des Bildungswesens, das der Kirche entzogen und republikanisch-laizistisch ausgerichtet wird und für das viele neue Schulen gebaut werden.

Die erste Phase des Krieges endet Anfang September 1870 mit der blamablen Gefangennahme von Kaiser Napoleon III. inmitten des chaotischen Rückzugs seiner Truppen. In der Ausstellung wird das treffend illustriert durch ein Gemälde, das den niedergeschlagenen Kaiser an der Seite des stolz Kopf und Helm in die Höhe streckenden Bismarck zeigt. Die Kapitulation von Napoleon III. am 4. September 1870 führt zum Sturz des längst marode gewordenen Zweiten Kaiserreichs und zur Bildung einer Regierung der nationalen Verteidigung, die den Krieg fortsetzt und dafür im ganzen Land Ersatzheere aufstellt und zusammenzieht. Doch die sind schlecht ausgebildet und ausgerüstet und können keine Wende des Kriegs herbeiführen. Um eine definitive Kapitulation zu erzwingen, wird von deutscher Seite Paris eingeschlossen, belagert und bombardiert.

Die Ausstellung zeigt anschaulich, zu welchen Opfern und Entbehrungen das für die Zivilbevölkerung führt. Sehr interessant sind auch die Beispiele für Kriegspropaganda, etwa wie beide Seiten sich gegenseitig Gräueltaten vorwerfen. Anlass zur Kritik bietet auch die Behandlung und Versorgung der rund 384 000 französischen Kriegsgefangenen, auf deren Zahl der preußische Generalstab völlig unzureichend vorbereitet war.

Am 26. Januar 1871 wird ein Waffenstillstand unterzeichnet. Tage später wird im Spiegelsaal von Versailles die Gründung des Deutschen Reiches und die Ernennung des preußischen Königs zum deutschen Kaiser ausgerufen - eine zusätzliche Erniedrigung des besiegten Gegners, die Bismarck zynisch organisiert hat. Für Frankreich werden Wahlen zum Parlament und die Bildung einer Regierung anberaumt, die zur Aufnahme von offiziellen Friedensverhandlungen ermächtigt werden soll. Als die im Mai 1871 in Frankfurt am Main abgeschlossen werden, sieht der Friedensvertrag die Abtretung der Regionen Elsass und Lothringen an das Deutsche Reich und die Zahlung von fünf Milliarden Goldfrancs als Reparation vor. Bis zu deren vollständiger Zahlung im September 1873 bleibt ein Drittel des französischen Territoriums besetzt.

Doch die Bevölkerung von Paris, das nicht von den Siegern eingenommen und besetzt wurde, lehnt sich gegen die »Kapitulanten« auf. Die neue Regierung unter dem verhassten Adolphe Thiers, die sich vorsichtshalber nicht in der Hauptstadt, sondern in Versailles konstituiert hat, will am 18. März 1871 die Kanonen der Pariser Bürgerwehr beschlagnahmen und sicherstellen. Dieser Versuch misslingt und löst im Gegenteil einen Aufstand der Bürger aus. Sie bilden eine Selbstverwaltung, die Pariser Kommune, die von Sozialrevolutionären und Sozialisten geführt wird und gesellschaftsverändernde Neuerungen und Umwälzungen durchführt.

Zwischen dem 3. April und dem 28. Mai 1871 wird Paris erneut eingeschlossen und belagert, nun aber durch französische Regierungstruppen, mit militärischer Unterstützung der Sieger des Krieges. Das ermöglicht schließlich den Regierungstruppen, Ende Mai in die Stadt einzudringen und die Kommune niederzuschlagen. In dieser Blutwoche kamen Schätzungen unterschiedlicher Beobachter zufolge zwischen 6000 und 30 000 Menschen ums Leben.

In der Ausstellung nehmen zwar die Fortschritte, die die Kommune beabsichtigt und eingeleitet hat, weniger Platz ein als die Fotos der Zerstörungen durch die Brände, die Kommunarden in den letzten Tagen aus Verzweiflung über ihre absehbare Niederlage gelegt haben, aber dass die Pariser Kommune so ausführlich behandelt wird, ist schon ein bemerkenswertes Ereignis. Im Umgang mit dieser Seite ihrer Geschichte tun sich heute viele Franzosen und auch die offizielle Geschichtsschreibung noch recht schwer; und in den Schulbüchern nimmt sie - ebenso wie der Krieg 1870/71 - bestenfalls einige Zeilen ein.

Interessant ist auch, wie in der Ausstellung dargestellt wird, welche Folgen der Deutsch-Französische Krieg für beide Länder hatte. Frankreich wird zur Republik, während auf deutschem Boden ein Kaiserreich entsteht, wo alles Militärische Kultcharakter bekommt und wo die französischen Reparationszahlungen maßgeblich die »Gründerjahre« finanzieren.

Frankreich erholt sich wirtschaftlich schnell und setzt die Ausweitung des Kolonialreichs fort. Zum inneren Zusammenhalt der jungen Republik trägt nicht zuletzt die Revanchepropaganda bei, die unter der Losung »Immer daran denken, nie darüber reden« das Fernziel der Wiedererlangung von Elsass-Lothringen im Auge hat - was dann ja durch die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg auch Wirklichkeit wird. Wie die Elsässer und Lothringer, die 1871 nicht die per Friedensvertrag freigestellte Übersiedlung ins »innere Frankreich« gewählt haben, sondern in ihrer Heimat geblieben sind, mehr als 40 Jahre lang als Bürger des Deutschen Reiches lebten, das zeigt ein eigener Teil der Ausstellung, und das ist ebenfalls in dieser Ausführlichkeit neu und sehr interessant.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!