Verfrühter Besuch aus Afrika
Die Beziehung zwischen Menschen und Neandertalern war offenbar komplexer als bisher vermutet
Der Oberschenkelknochen eines auf der Schwäbischen Alb entdeckten Neandertalers wirft ein neues Licht auf den Weg der Menschen aus Afrika. Ein internationales Forscherteam hat das Erbgut aus dem Knochen entschlüsselt und berichtet darüber im Fachjournal »Nature Communications« (DOI: 10.1038/NCOMMS16046). Das über-raschende Resultat: Eine Gruppe Urmenschen muss Afrika schon vor 300 000 bis 400 000 Jahren verlassen und sich dann in Europa mit Neandertalern vermischt haben. Bei den Urmenschen handele es sich entweder um den Homo sapiens oder eine sehr eng mit ihm verwandte, noch unbekannte Art, sagt Erstautor Cosimo Posth vom Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte.
Nach bisheriger Lehrmeinung entstand der moderne Mensch (Homo sapiens) vor etwa 300 000 Jahren in Afrika und begann vor rund 100 000 Jahren, auf die anderen Kontinente zu wandern. Europa hatte er erst vor rund 40 000 Jahren erreicht. Die dort heimischen Neandertaler starben kurz nach Ankunft des Homo sapiens aus.
Das Team um Posth analysierte nun den Oberschenkelknochen, der aus der Höhle Hohlenstein-Stadel östlich von Ulm stammt. Dabei entschlüsselten die Wissenschaftler die vollständige mitochondriale DNA (mtDNA). Die DNA aus Zellkraftwerken, den Mitochondrien, wird nur über die mütterliche Linie vererbt - im Gegensatz zur DNA im Zellkern (nDNA), die von beiden Elternteilen stammt.
Die Analyse ergab, dass der Knochen von einem Neandertaler stammt, der vor etwa 124 000 Jahren lebte. Zudem zeigt der Erbgutvergleich mit modernen Menschen, anderen Neandertalern und in Zentralasien gefundenen Denisova-Menschen, dass die mtDNA Sequenzen von Urmenschen enthält, die viel näher mit dem Homo sapiens verwandt waren als Neandertaler.
Diese Sequenzen finden sich weder in den etwa 430 000 Jahre alten Neandertaler-Knochen aus der nordspanischen Höhle Sima de los Huesos noch in Überresten von Denisova-Menschen, die eng mit Neandertalern verwandt sind. Daraus und aus dem Ausmaß der Erbgutveränderungen folgert das Team, dass Urmenschen bereits vor 300 000 bis 400 000 Jahren von Afrika nach Europa gelangten und sich mit Neandertalern vermischten.
Die Studie löst zugleich ein Rätsel zur Datierung des letzten gemeinsamen Vorfahren von modernem Menschen und Neandertaler: Analysen von Zellkern-DNA deuteten bislang darauf hin, dass dieser Ahne vor etwa 600 000 bis 700 000 Jahren lebte. Dagegen gingen mtDNA-Studien - aufgrund von größeren Ähnlichkeiten dieser Art Genome - von einer wesentlich jüngeren Abspaltung aus: vor etwa 400 000 Jahren. Diese Ähnlichkeit geht wohl auf die nun entdeckte zwischenzeitliche Vermischung der aus Afrika zugewanderten Urmenschen und Neandertaler zurück.
Demnach wäre die Entwicklung folgendermaßen abgelaufen: Vor etwa 600 000 bis 700 000 Jahren trennten sich die Linien von modernen Menschen und einer anderen Gruppe, die Afrika in der Folgezeit verließ. Aus dieser gingen dann in Eurasien Neandertaler und Denisova-Mensch hervor. Eine Gruppe von Urmenschen wanderte dann vor 300 000 bis 400 000 Jahren aus Afrika aus und vermischte sich mit Neandertalern. Der moderne Mensch verließ Afrika demnach - wie bislang angenommen - vor rund 100 000 Jahren. dpa/nd
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