Gab es eine Flora-Falle?
Polizeifreies Schanzenviertel während des G20-Gipfels gibt Anlass zu Vermutungen
Hamburgs Kriminaldirektor Jan Hieber ist Chef der Sonderkommission »Schwarzer Block«. Ihm werden rund 170 Mitarbeiter zugewiesen, die Bundespolizei und die Polizeien der Länder schicken Hilfe. Gemeinsam will man die Verantwortlichen an den G20-Krawallen einer gerechten Strafe zuführen.
Eine große Aufgabe, denn: Verantwortlich für die Ausschreitungen sind auch jene, die sie zugelassen haben. Und da ist gerade für die Nacht von Freitag auf Samstag vergangener Woche einiges aufzuklären, das auch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss rechtfertigen würde. Die Bürgerschaft begnügt sich mit einem Sonderausschuss, der weit weniger Rechte hat. Das nährt Unbehagen.
Schon in der Nacht zuvor war das Schanzenviertel - nach der von der Polizei aufgeriebenen Demonstration »Welcome to Hell« und der folgenden »Revolutionären Anti-G20-Demo« - im Wortsinn ein Brennpunkt der Auseinandersetzungen. Im Umkreis des seit den 80er Jahren besetzten ehemaligen Revuetheaters »Rote Flora« sammelte sich Widerstand. Die Polizeiführung versuchte, während die Staatsgäste in der Elbphilharmonie Beethovens »Freude, schöner Götterfunken« lauschten, nach einer Möglichkeit, den dort aufgestauten Druck der Demonstranten umzuleiten. Der Schutz der Staatsgäste hatte Priorität. Die Schanze wurde geöffnet.
So vorbereitet lebte dort der Widerstand am Freitagabend erneut auf. Kurz nach 19 Uhr kam die Meldung, dass am Schulterblatt - es handelt sich um eine Hauptstraße in dem Gebiet - ein Feuer ausgebrochen sei. Die Feuerwehr hatte Schwierigkeiten, zum Einsatzort zu gelangen. »Lasst unsere Kollegen im Schulterblatt in Ruhe!! Wir kommen zum Helfen!!!«, twitterte der Einsatzstab. Und was unternahm die Polizei gegen die Steinewerfer? Nichts. Nicht einmal als das Gerücht aufkam, der Brandort sei eine Bank, wurden die Polizisten aktiv. Dafür gab es Gerüchte, dass ein Polizist in Notwehr geschossen habe. Das elektrisierte die Widerständler zusätzlich.
Derweil tobten in St. Pauli gewaltsame Auseinandersetzungen, der Schwarze Block hatte sich in Kleingruppen quer durch das Zentrum aufgelöst. Die sogenannte Raumdeckung, zu der die Polizei seit Donnerstag übergegangen war, erwies sich als untauglich, die Aufspaltung der Einsatzhundertschaften drohte zum Problem zu werden.
Erneut zog sich die Polizei völlig aus dem Kern des Schanzenviertels zurück - eine Falle, bei der die Anwohner ungefragt zu Geiseln gemacht wurden. Die Taktik »offenes Schanzenviertel« war eine Einladung für »Straßenkämpfer«, die alsbald ihren »Sieg« mit meterhoch brennenden Barrikaden und zahlreichen Plünderungen feierten.
Das alles beobachtete die Polizei, denn pausenlos kreisten mehrere Helikopter über dem Viertel. Am Pferdemarkt - die Straße führt zum Schulterblatt - kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Die Polizei verhinderte ein Ausbrechen der sogenannten Krawallmacher aus dem Schanzenviertel, ging aber selbst nicht weiter vor, denn, so twitterte die Einsatzleitung: »Störer im Bereich Schulterblatt massiv bewaffnet, bewerfen Kräfte von einem Gerüst und schießen mit Zwillen.« Stimmt. Es gibt Videoaufnahmen einer Hubschrauberkamera, die zeigen, dass vom Dach dieses einen Hauses Gegenstände geworfen wurden. Gegen einen Wasserwerfer schleuderte jemand einen Molotowcocktail, der jedoch nicht zündete.
Man wolle die Beamten nicht in Lebensgefahr bringen, sagte die Polizeiführung und ließ die Randalierer rund drei Stunden gewähren. Seltsam. Denn die Polizei hatte einen Schlüssel zu dem betreffenden Haus, das renoviert wird und daher leer steht. Der Besitzer brachte den Schlüssel bereits am 7. Juli zur Polizei, nachdem er die Beamten am 5. Juli auf diese besondere Gefahrenstelle aufmerksam gemacht hatte.
Die Anwohner des Gebietes berichten noch immer von ihrer Angst und der Hoffnung, die Polizei werde dem Spuk ein Ende bereiten. Doch das tat sie drei Stunden lang nicht. Dabei hätte sie über die Susannen-, die Juliusstraße oder eine andere für Wasserwerfer taugliche Zufahrt zur Randale vordringen können.
Erst Stunden später wurden 13 der Dachbesetzer - es soll sich um vier Russen und neun Deutsche handeln - von der österreichischen Spezialeinheit »Cobra« festgesetzt. Man brachte sie in die Gefangenensammelstelle und wollte am Folgetag weiter entscheiden. Doch seltsam, es wurde nicht ein einziger Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts einer schweren Straftat beantragt, sagt die zuständige Justiz. Das erfolgte erst am 8. Juli zwischen 21.05 und 21.31 Uhr. Da war die Frist für eine Ingewahrsamnahme fast abgelaufen, so dass der Justiz keine Zeit blieb, um die Beschuldigten zu befragen und auch Dolmetscher anzufordern. Ergebnis: Alle 13 Verdächtigen wurden wieder frei gelassen.
Nachtrag: Wer sich an die Auseinandersetzungen zum G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm erinnert, dem fällt ein, dass unter den schlimmsten Steinewerfern Zivilpolizisten waren.
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