Von einem Bürgerkrieg »waren wir aber weit entfernt«
Geschäftstreibende aus dem Schanzenviertel melden sich kritisch zur Berichterstattung über die Krawalle in Hamburg zu Wort
In der Berichterstattung zu den Ausschreitungen am Wochenende im Hamburger Schanzenviertel geizten einige Medien nicht mit Superlativen. So schrieb etwa »Spiegel Online«, die Situation im linksalternativen Szeneviertel der Hansestadt sei »wie im Krieg« gewesen. Doch ausgerechnet jene, die von den Krawallen des Wochenendes am direktesten betroffen waren, widersprechen nun dieser Darstellung. »Von der Realität eines Bürgerkriegs waren wir aber weit entfernt«, heißt es in einem offenen Brief einiger Geschäftstreibenden aus dem Schanzenviertel.
Insgesamt zehn Besitzer verschiedener Geschäfte, darunter einer Eisdiele, einer Druckerei und einem Schallplattenladen, sorgen mit ihren Äußerungen nun für Aufsehen, wehren sie sich doch vehement gegen die bisher oft dominierende Erzählung über das, was in der Nach von Freitag auf Samstag im Schanzenviertel passierte. Wir »sehen uns genötigt in Anbetracht der Berichterstattung und des öffentlichen Diskurses, unsere Sicht der Ereignisse zu den Ausschreitungen« zu schildern, begründen die Gewerbetreibenden ihre Gang an die Öffentlichkeit.
Dass über Stunden in der Schanze eine Menge tobte, die mehrere Läden plünderte, Scheiben einschlug und brennende Barrikaden errichtete, bezweifeln die Autoren nicht. »Wir beobachteten das Geschehen leicht verängstigt und skeptisch vor Ort und aus unseren Fenstern in den Straßen unseres Viertels«, schildern sie ihre Eindrücke jener Nacht.
Doch die Ereignisse seien komplexer, als sie von Medien, der Polizei und in der Debatte reflektiert würden. »Wir haben aber auch gesehen, wie viele Tage in Folge völlig unverhältnismäßig bei jeder Kleinigkeit der Wasserwerfer zum Einsatz kam. Wie Menschen von uniformierten und behelmten Beamten ohne Grund geschubst oder auch vom Fahrrad geschlagen wurden«, heißt es als Kritik in Richtung der Polizei gerichtet. Solche Vorfälle habe es nicht nur in dieser Nacht gegeben, sondern »tagelang«.
Auch der Darstellung, der Großteil der Schäden sei auf Krawalle von Aktivisten des Schwarzen Blocks zurückzuführen, widersprechen die Gewerbetreibenden. Verantwortlich seien zum weit größeren Teil »erlebnishungrige Jugendliche sowie Voyeure und Partyvolk« gewesen.
»Es waren betrunkene junge Männer, die wir auf dem Baugerüst sahen, die mit Flaschen warfen – hierbei von einem geplanten ‘Hinterhalt’ und Bedrohung für Leib und Leben der Beamten zu sprechen, ist für uns nicht nachvollziehbar«, heißt es in dem Brief. Diese Personen seien es mehrheitlich auch gewesen, die im Anschluss Scheiben einschlugen und Geschäfte plünderten. Die Händler sind sicher: »Das war kein linker Protest gegen den G20-Gipfel. Hier von linken AktivistInnen zu sprechen wäre verkürzt und falsch.« Stattdessen habe man sogar schwarz gekleidete Vermummte wahrgenommen, die teilweise gemeinsam mit Anwohnern versucht hätten, die Plünderung kleinerer Läden zu verhindern.
Dass sich am vergangenen Wochenende die Wut auf die Polizei »wahllos, blind und stumpf« gezeigt habe, sei zu bedauern. Dennoch sei der Ursprung dieser Wut »in der verfehlten Politik des rot-grünen Senats« zu suchen, der sich einerseits im »Blitzlichtgewitter der internationalen Presse sonnen« wollte, während er anderseits »einer hochmilitarisierten Polizei das komplette Management dieses Großereignisses auf allen Ebenen« überließ.
Der Aufforderung von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), sich einer inakzeptablen »Verrohung« entgegenzustellen, können die Verfasser des Briefes nur beizupflichten – jedoch anders als vom Senat gedacht. »Dass die Verrohung aber auch die Konsequenz einer Gesellschaft ist, in der jeglicher abweichende politische Ausdruck pauschal kriminalisiert und mit Sondergesetzen und militarisierten Einheiten polizeilich bekämpft wird« dürfe nicht unberücksichtigt bleiben.
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