Worte allein reichen nicht mehr
Gönül Kıvılcım über die Rolle der Literatur in einem autoritären Staat
Frau Kıvılcım, Sie sind Schriftstellerin, lassen Sie uns über Literatur in schwierigen Zeiten sprechen.
Literatur lebt von schwierigen Zeiten. Sie braucht aber einen Freiraum, den es in der Türkei derzeit nicht gibt.
Literatur war in der Türkei nie etwas, woran alle Schichten partizipierten. Ist es nach wie vor so, dass relativ wenig Leute lesen und Bücher kaufen?
Die türkische Literatur funktioniert anders als die europäische, in der der Roman das dominante Genre ist. In der Türkei, wie übrigens auch in Russland, war und ist die Lyrik wichtiger. Die Prosa gewinnt zwar an Gewicht, dennoch kann ich Ihnen mehr türkische Dichter als Romanautoren nennen. Der erste Schriftsteller im westlichen Sinne ist für mich Orhan Pamuk, vor ihm vielleicht noch Ahmet Hamdi Tanpınar. Aber das Mündliche hat immer noch Vorrang. Märchen kommen auch in vielen Romanen vor, etwa in in Haydar Karataş’ »Geheimnis der zwölf Berge« oder bei Yaşar Kemal. Auch ich habe viele Märchen und Epen von meinem Vater gehört. Wir haben eine andere Tradition als der Westen. Man erzählt mehr, sitzt in Cafés und spricht miteinander.
Gönül Kıvılcım, 1963 nahe Ankara geboren, ist Ökonomin, Journalistin und Schriftstellerin. Seit 1993 arbeitete sie für deutsche und türkische Medien, seit 1998 veröffentlichte sie Romane und Erzählungen. Einer ihrer belletristischen Texte erschien auf Deutsch in dem Band »Liebe, Lügen und Gespenster« (Unionsverlag 2006). In jüngster Zeit organisierte sie Mahnwachen in der Türkei für inhaftierte Autoren und Schriftstellerinnen. Das nebenstehende Interview mit Kıvılcım, die in Istanbul lebt, führte Mario Pschera.
Tradition ist aber auch, dass Literatur von den Herrschenden sehr ernst genommen wird.
Es hat mich überrascht, als ich dazu zu recherchieren begann: Ich wusste zwar, dass der sozialistische Schriftsteller und Journalist Sabahattin Ali ermordet und Yaşar Kemal ins Gefängnis gesteckt worden war. Aber sie waren beileibe nicht die einzigen. Dass Schriftsteller ins Gefängnis kommen, hatte schon vor Gründung der Republik bei uns eine gewisse Tradition. Ich lese gerade Marc Nichanians Buch »Die Literatur und die Katastrophe«. Es erzählt vom Schweigen der Türken über die Massaker an den Armeniern. 1915, als die ersten Intellektuellen in Istanbul verhaftet und ins Exil oder in den Tod geschickt wurden, haben alle geschwiegen. Ich bin erschrocken: Das ist wie heute. Wer den Mund aufmacht, wird ins Gefängnis gesteckt.
Dennoch hatte ich noch auf der Istanbuler Buchmesse 2016 den Eindruck, dass die meisten Schriftsteller und Publizisten sehr kämpferisch gestimmt waren - trotz der Angst, die zu spüren war.
Ich äußerte schon vor den Gezi-Demonstrationen: Schreiben ist Flucht, aber gleichzeitig Aufstand. Mit Gezi wurde das plötzlich konkret. Ich habe in einem Essay geschrieben, Literatur sei Aufstand, aber jetzt machen wir den Aufstand auf der Straße. Es ist schwierig, heute etwas Fiktives zu schreiben, denn das, was draußen passiert, ist viel stärker als jede Fiktion - du denkst, das ist pures Hollywood. Dieser Realität entsprechend müssen wir Literatur machen - und Politik. Wir sind keine Politiker, aber wir müssen uns für unsere Freunde engagieren, die ihre Jobs verlieren. Pelin Buzluk zum Beispiel hat in diesem Jahr den Sait-Faik-Preis bekommen und wurde per Notstandsdekret von ihrer Arbeitsstelle gefeuert. Und sie ist nur eine von Tausenden von Leuten. Über 8000 Akademiker sind entlassen worden. Wenn sie können, wandern sie aus. Unglaubliche Zeiten. Das müssen wir in Sätze fassen. Worte geben uns Kraft gegen die Regierung, gegen dieses Präsidialsystem, gegen ein totalitäres Regime. Aber das allein reicht nicht. Was ist jetzt wichtiger? Soll ich auf die Straße gehen, oder soll ich zu Hause sitzen und schreiben? Beides ist wichtig. Ohne Engagement geht es nicht. Worte allein reichen nicht. Wir brauchen Solidarität, zum Beispiel mit den Akademikern, die sich im Hungerstreik befinden.
Schriftsteller haben die Aufgabe, das, was in der Geschichtsschreibung nicht vorkommt, für nachfolgende Generationen erfahrbar zu machen. Es waren Ende der 1990er Jahre türkische Intellektuelle, die die verleugneten Massaker an den Armeniern öffentlich diskutierten. Fixieren die Autoren in der Türkei das, was heute passiert, für nachfolgende Generationen, während die Kinder derzeit ein ganz anderes Türkei-Bild vermittelt bekommen - etwa mit Schultheateraufführungen, in denen sie lernen, dass es eine Ehre sei, als Märtyrer für das Vaterland zu sterben?
Die Türkei hat ein Problem damit, sich der Vergangenheit zu stellen und Aufarbeitung zu betreiben. Jetzt bezahlen wir dafür, dass man sich der armenischen Frage nicht gestellt hat. Seit fast 40 Jahren geht der Krieg gegen die Kurden. Unsere kurdischen Freunde sagen, wir bezahlen dafür, dass wir damals mitgemacht haben und dass man darüber später nicht gesprochen hat. Man hat das Land der Armenier besetzt und darüber geschwiegen. In ganz Mittelanatolien wurden armenische Kirchen zerstört, um die Spuren zu tilgen. Die Namen von Dörfern und Städten wurden geändert, nicht nur die der kurdischen, auch die der georgischen, armenischen, griechischen.
Mir kommt es vor, als ob die ganze Türkei eine große Lüge sei. Mein Land ist voll mit Tragödien. Deswegen wollte ich darüber schreiben. Schon als Kind hört man gewisse Geschichten. Ich wollte über das anatolische Hinterland schreiben, über die Weizenfelder meines Vaters. Literatur ist auch Flucht, nicht nur Aufstand. Man ist unzufrieden mit sich selbst, mit dem Land, mit der Welt. Ich will über die Zeit schreiben, in der wir leben. Einerseits ertrinken Hunderte von Menschen im Mittelmeer, andererseits redet man über Slowfood. Das heißt, manche haben zu schnell gefressen und jetzt wollen sie slow essen, andererseits sterben manche zu schnell. Sind das die Probleme? Gibt es einen Slow-Tod?
Hat das gesellschaftliche Klima Auswirkungen auf die literarische Produktion?
Natürlich. 2000 Bücher des Belge-Verlags wurden beschlagnahmt und der Verlagseigentümer Ragip Zarakolu floh ins Ausland. Das sind keine schönen Nachrichten. Was kommt als nächstes? Kultur hat bei uns einen schweren Stand. Es werden weniger Bücher gekauft - außer aus Solidarität. Ähnlich war es im Falle der satirischen Wochenzeitschrift »Penguen«, die angekündigt hatte, dichtzumachen. Wegen bestimmter Karikaturen bekam sie Prozesse an den Hals. Dazu kam der finanzielle Druck, wenn man nur noch im Internet gelesen wird: Likes auf Facebook nutzen ja nichts. Aber dann gab es einen Aufruf, »Penguen« zu kaufen, um die Zeitschrift zu retten.
Können Buchhandlungen anbieten, was sie wollen, oder schaut jetzt öfter auch mal jemand vorbei und sagt, diese Bücher solltet ihr lieber nicht im Schaufenster haben?
Noch ist es nicht so weit, aber eine bestimmte Art von Selbstzensur gab es schon immer in der Türkei. Man hat das Schicksal von Ahmet Şık vor Augen, der ein Buch über die Gülen-Bewegung, »Die Armee des Imam«, geschrieben hat, für zwei Jahre ins Gefängnis gegangen ist und jetzt erneut verhaftet wurde.
Weil er als Gülen-Unterstützer angeklagt wurde, was absurd ist.
Alles ist absurd zur Zeit. Heute würde keiner mehr so ein Buch schreiben. Noch ist es nicht so weit, dass es moralische Restriktionen gibt, dass man etwa über Sexualität nicht mehr schreibt. Aber warten wir es ab. Man soll ja nicht die Familienwerte …
… in den Schmutz ziehen, wie es so schön heißt. Was erhoffen Sie sich von der Literatur?
Wer die Geschichten anderer besser kennt, kann Vorurteile abbauen. Wir selbst wussten sehr wenig von den Kurden, deren Hintergrund, deren Literatur. Wir wussten nicht, was für eine Tragödie in den kurdischen Dörfern vor 30, 40 Jahren begann, als das Militär einmarschierte. Das ist so weit weg, keiner fährt hin. Ich als Journalistin hingegen schon. Deswegen habe ich einen anderen Blick darauf als eine Frau, die nur Istanbul oder Ankara kennt. Deutsche essen einen Döner und fahren vielleicht einmal nach Antalya, kennen aber nicht die Geschichten der Menschen. Literatur ist die beste Brücke. Sie müssen nicht in die Türkei fahren, um die Leute kennenzulernen, sie müssen nur mehr türkische Literatur lesen: Yaşar Kemal erzählt von Adana besser als jeder Reiseführer.
Die Frage nach dem Warum ist ein weiterer Grund, aus dem ich schreibe. Ich will andere Menschen besser kennenlernen, ich will aber auch mich selbst besser kennenlernen. Warum war meine Mutter so, warum die Deutschen, warum reagiert die Welt nicht auf die syrische Realität? Zehntausende Flüchtlinge sind unterwegs - warum verhandelt Merkel mit Erdogan, nur um die Flüchtlinge in Asien zu stoppen, damit sie nicht nach Europa kommen? Warum verschließt man die Augen vor der Tragödie? Entweder sitzt man da und kaut Nägel - oder man schreibt. In diesen Zeiten, in denen Trump Amerika regiert und Le Pen so viele Wähler gewinnt, ist das Lesen der Geschichten der anderen nicht das einzige Gegenmittel, aber wenigstens eines.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.