Erbarmungslose Tiefenschärfe

Das Münchener Haus der Kunst feiert die bezwingende Sachlichkeit des Fotografen Thomas Struth

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 5 Min.

Abgedeckt von blauen Tüchern liegt der Patient auf dem OP-Tisch. Ein Gewirr aus Schläuchen, Sonden und Roboterarmen in transparenter Schutzfolie schwebt über den paar Quadratzentimetern frei gebliebener Menschenhaut. Eins ihrer endoskopischen Instrumente haben die Ärzte dem anonymen Bewusstlosen schon zielgenau in den Bauch gebohrt. Es ist ein minimalinvasives Auge zum Innersten, den Innereien.

Das Bild aus der Berliner Charité scheint in doppeltem Sinne typisch für Thomas Struth. Denn Tiefenschärfe bestimmt seit rund vier Jahrzehnten die künstlerische Arbeit des international renommierten Fotografen. Egal ob er marode Straßenzüge der frühen Nachwende-DDR ablichtet, Museumsbesucher, Forschungseinrichtungen oder eben Kliniken - stets sind seine Aufnahmen erbarmungslos präzise in ihrer Erfassung der Wirklichkeit.

Mit gut 130 Arbeiten überblickt das Münchener Haus der Kunst unter dem Titel »Figure Ground« nun erstmals alle Schaffensphasen Struths, der wie Andreas Gursky, Thomas Ruff und Candida Höfer die neusachliche Kameratradition seiner Düsseldorfer Lehrer Bernd und Hilla Becher weiterführt. Schon ein flüchtiger Rundgang durch die Schau verdeutlicht indes, dass keiner der Weggefährten auf so vielen unterschiedlichen Themenfeldern unterwegs ist. Gleichzeitig hat Struth, der 1954 im nordrhein-westfälischen Remscheid geboren wurde, auch sein fotografisches Erkenntnisinteresse konsequent erweitert. Je nach Werkgruppe ist er bald Formalist, bald Psychologe, dann wieder Historiker oder zeitgenössischer Dokumentar.

Seinen Einstieg findet der Parcours über die frühe Serie der »Unbewussten Orte«: Die in nüchternem Schwarzweiß gehaltenen Straßenzüge offenbaren eine horizontale Archäologie der Stadt, in der Metropolen als ein Nebeneinander unterschiedlicher architektonischer und gesellschaftlicher Epochen sichtbar werden. Demgegenüber registrieren Olivenbäume im Schutt, Militärposten in der Einöde und andere Aufnahmen von den Golanhöhen beziehungsweise aus Ramallah die Wunden der Verödung, mit denen jüngste politische Konflikte die Landschaft überzogen haben.

Ganz anders wiederum die Porträts. Besonders bei seinen ungestellten Bildnissen von Durchschnittsfamilien nimmt sich der Künstler als Arrangeur vollkommen zurück und schöpft damit umso gründlicher das Entlarvungspotenzial der Kamera aus. Väter, Mütter, Kinder verraten durch Kleidung wie Wohnumfeld den ökonomischen Status. Körperhaltung, Mimik und die von den Personen selbst gewählte Position auf dem Bild legen Hierarchien sowie Spannungen im sozialen Mikrokosmos bloß.

Falls all diese Sujets etwas verbindet, dann der Ansatz, den Dingen aus der Distanz näher zu kommen. Struth sucht das Konzentrat einer Situation, nicht die Stimmung. Da mag es ein konzeptueller Widerspruch sein, dass er ein Spektrometer aus dem Max-Planck-Institut als plastisches Chaos aus Kabeln und Metall zeigt. Doch scheint gerade in der ungeordneten Struktur das Wesentliche einer Hochtechnologie, deren Komplexität sich dem Verständnis durch den Laien immer weiter entzieht, treffend erfasst.

Welche akribische Recherche der Fotograf seinen Werken voranschickt, belegt sein im zentralen Saal ausgebreitetes Privatarchiv. Ein Materialdschungel aus Postkarten, Zeitschriftenfotos und anderen Bilderfunden, zusammen mit Skizzen und Notizen. Dazwischen finden sich Belege für seine frühen malerischen Gehversuche, die er allerdings nach wenigen Semestern aufgegeben hat. Trotzdem ist etwas von den Anfängen geblieben. Mehr als die anderen Vertreter der sogenannten Becher-Schule hat Struth die analytische Fotografie im Laufe der Jahre an die Ästhetik klassischer Gemälde herangeführt.

Nicht nur die Formate seiner Abzüge orientieren sich an den Abmessungen von Altartafeln, auch Komposition und Ausleuchtung der Werke. All das lässt die Retrospektive so unmittelbar, so unausweichlich in ihrer Wirkung auf den Betrachter werden. Wahrscheinlich kann sich nur Monumentalfotografie wie diese gegen die weitläufigen Hallen des Münchener Nazibaus behaupten. Noch über Entfernungen von dreißig, vielleicht vierzig Metern halten die Exponate ihren visuellen Dialog aufrecht.

So verdoppeln sich vor allem die Museumsinterieurs in den Raum hinein. Die Wände reißen auf und die Besucher im Haus der Kunst mischen sich unter Kunstfreunde aus ganz anderen Museen: Betrachter und Bewunderer des Berliner Pergamonaltars, der alten Venezianer in der Londoner National Gallery oder der Impressionisten im Art Institute of Chicago.

Prägend für die Tableaus ist aber auch das Zusammenspiel wuchtiger Dimensionen mit irritierender, oftmals schon ironischer Aufmerksamkeit für Details. Etwa beim 2011 entstandenen Porträt von Königin Elizabeth II. nebst Prinzgemahl. Wie einst Hans Holbein d. J. in seinen revolutionär realistischen Adelsporträts vom englischen Hof betont auch Struths Blick die Stofflichkeit der Kleidung, den grünen Brokatbezug des Sofas. Den Gesichtszügen verleiht er eine aus Stein gemeißelte Härte. Gleichwohl lassen einige Krampfäderchen der Queen, die bläulich durch die Strumpfhose schimmern, keinen Zweifel daran, dass es trotz aller Perfektion Menschen aus Fleisch und Blut sind, die da vor dem Objektiv des Fotografen gesessen haben.

Ein wenig erinnert der Weg durch die große Münchener Ausstellung an einen Film mit zahllosen, immer wieder hart geschnittenen Schauplatzwechseln. Gerade noch in einem Prachtsaal von Schloss Windsor in Großbritannien zu Gast, findet man sich ein paar Schritte weiter plötzlich an der südkoreanischen Küste wieder, wo eine am Ufer vertäute Bohrinsel stählern und scharfkantig aufragt. In der bezwingenden Perspektive der Untersicht wird aus dem monumentalen Ingenieurskunstwerk auf einmal etwas ganz anderes, ein modernes Pendant von Arnold Böcklins düsterem Symbolbild der Toteninsel. Doch Thomas Struth, dem grandiosesten Kameramaler der Gegenwartskunst, wäre diese Deutung vielleicht gar nicht recht. Denn er will kein Interpret sein, sondern ein Beobachter, der sich so zur Welt verhält wie die Welt zu sich selbst: neutral.

»Thomas Struth: Figure Ground«, bis zum 17. September im Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, München

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