Krieg der Klänge

Im Kino: »Dunkirk« von Christopher Nolan ist ein apokalyptisches Kunstwerk

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 5 Min.

Kein Ruhm, keine Ehre, keine Briefe von zu Hause, keine Generäle bei der Lagebesprechung, kein Kitsch, keine Hymnen, keine Hakenkreuze, keine Zivilisten, keine tränenreichen Abschiede, keine dramatischen Todeskämpfe oder Rettungen, keine Romanze - und: keine emotionalen Ansprachen. Stattdessen: grimmige und sture Betriebsamkeit. Verzweifelte und wortkarge Zielstrebigkeit. Eindringlicher, intensiver, alle Sinne absorbierender Überlebenskampf. Das dreckige und kräftezehrende Handwerk des Kampfes. In Christopher Nolans filmischem Kunstwerk »Dunkirk« geht der Zweite Weltkrieg mühsam, verbissen und stumm vonstatten - und ist doch ein Krieg der Klänge, in dem Wände aus Lärm aufgetürmt werden, um sie krachend wieder einstürzen zu lassen.

Im Kontrast zur ohrenbetäubenden Kriegsmaschine erscheinen die am Strand auf Evakuierung wartenden Soldaten wie Zombies: der Sprache und aller Individualität beraubt, auf den puren Instinkt reduziert. »Dunkirk« spielt 1940 und schildert die Evakuierung von über 300 000 überwiegend britischen Soldaten, die im französischen Dünkirchen von den Nazis eingeschlossen waren. Ein Ausbruch war utopisch, so lagen alle Hoffnungen auf der Flucht übers Meer ins nur 26 Seemeilen entfernte England. Wobei zur Hoffnung nicht viel Anlass bestand: Das Wasser war zu flach für große Boote, die mussten weit draußen auf See warten. Zudem befanden sich sowohl die Soldaten am Strand als auch die Rettungsboote auf See wie auf dem Präsentierteller für deutsche Flugzeuge und Scharfschützen. Ein Leben zwischen allgemeinem Mangel, zermürbender Langeweile und urplötzlichem Terror.

Es gibt in »Dunkirk« kaum eine »echte« Handlung oder Dialoge, die diese vorantreiben würden. Alles ist total im jeweiligen Moment. Der Film liefert keine Einführung, keine Geschichtslektionen. Der Zuschauer wird - nach einem trügerischen Moment der Stille ganz zu Beginn - sofort mitten ins Fegefeuer geworfen und ist ähnlich ahnungslos wie die Soldaten. Statt eines übergreifenden Plots kreierte Nolan (auch Drehbuch) einzelne, intime Momente, die sich zu einem berührenden, beinahe überfordernden Ganzen extrem verdichten; ein Prozess, der fast schon physisch erfahrbar wird. Dieses Konzept ist voll aufgegangen.

Als sei das noch nicht komplex genug, sind diese Szenen auf drei Handlungsebenen (Land, See, Luft) verteilt, die sich auch noch in jeweils verschiedenen Geschwindigkeiten fortentwickeln: Man folgt jungen Soldaten am Strand (Evakuierung: neun Tage), Piloten im Abwehrkampf (Luftkrieg: eine Stunde) sowie britischen Bürgern, die sich mit ihren Privatbooten an der Evakuierung beteiligt haben (Überfahrt: ein Tag). Dennoch hat man - vor allem wegen der meisterhaften Montage des Cutters Lee Smith - durch geschickte Verflechtung der verschiedenen Schauplätze und Zeiten den Eindruck der Gleichzeitigkeit.

Kameramann Hoyte Van Hoytema hat mit einer sehr edlen technischen Kombination aus Imax- und 65-mm-Film zum Teil überwältigende Bilder geschaffen, die so blass und entsättigt wirken wie die Soldaten. Diese Bilder treffen sich in ihrer (positiv) altmodischen Anmutung mit Nolans weitgehendem Verzicht auf digitale Effekte: Bei den Luftkämpfen etwa werden »echte« Flugzeugmodelle abgeschossen - das Ergebnis ist absolut rasant.

Es geht um das Prinzip Soldat, das Prinzip Überleben. Konsequenterweise kennt der Film darum keinen einzelnen Helden, am nächsten kommt dieser Beschreibung wohl ein von Tom Hardy gespielter britischer Pilot. Und ausgerechnet dessen Gesicht verschwindet (wie schon bei Hardys Charakteren in »Batman« und »Mad Max«) die meiste Zeit hinter einer Atemmaske, jedoch ohne dass es dadurch seine Ausdruckskraft verlieren würde. Weitere bekannte Schauspieler sind Kenneth Branagh als britischer Offizier, Cillian Murphy als traumatisierter Soldat in Seenot und Mark Rylance als patriotischer englischer Kleinboot-Kapitän. Doch diese Stars reihen sich sehr genügsam ein in das Ensemble aus reihenweise hochtalentierten Nachwuchsschauspielern. Frauen spielen im ganzen Film gar keine Rolle.

Nolan spielt mit dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Während die rettende englische Küste fast mit bloßem Auge zu sehen ist und umgekehrt sehr deutlich Dünkirchen mit seinen Rauchsäulen, so taucht kein einziger Nazi, kein einziger Wehrmachtssoldat auf. Der Feind, der Tod hat kein Gesicht - er sendet nur die Terror-Klänge seiner Geschosse und Flugzeuge. Und da kommt die Musik von Hans Zimmer ins Spiel. Sein Soundtrack ist ein Geniestreich, der sich teils unterstützend, teils zerstörend auf das allgegenwärtige und nervtötende Ticken einer Uhr und das kolossale Kriegsgetöse setzt. Wer schon mal neben einem laut tickenden Wecker einschlafen wollte, kennt das rastlose Gefühl, das einen bei diesem Film recht bald beschleicht. Die britische Zeitung »Empire« beschreibt Zimmers Score als »so nervenzerfetzend, dass er wie eine zusätzliche feindliche Front wirkt«.

Für das unmittelbare Hineinwerfen in eine kaum erklärte Situation, in der die Protagonisten nur noch reagieren können, hat sich der Regisseur von einem anderen großartigen, aber zunächst abwegig erscheinenden Film inspirieren lassen: »Es erscheint wie die Action im dritten Akt eines Films, doch bei ›Dunkirk‹ ist der ganze Film so«, sagte Nolan kürzlich in einem Interview. »Es gab Filme, die das bereits so gemacht haben, wie etwa ›Mad Max - Fury Road‹ von George Miller. Da wirst du in die ganz aktuelle Spannung hineingeworfen, und der Zuschauer muss sich damit genauso wie die Filmcharaktere sofort auseinandersetzen.« Es geht also weniger um das historische Ereignis und die Begebenheiten, die dazu geführt haben, wie etwa Hitlers rätselhafter Befehl, die Stadt nicht einzunehmen. Es geht um die Bewältigung der Hölle, nicht darum, wie sie entstanden ist.

Der weitgehende Verzicht auf Emotionalisierung ist Nolan hoch anzurechnen. Ebenso, dass er (auch das ist positiv altbacken) fast vollständig auf drastische Gewaltdarstellungen verzichtet und so gut wie kein Blut braucht, um seinen Kriegshorror glaubhaft zu inszenieren. Zudem wird das Verhalten der Engländer nicht verklärt, schließlich lassen die fliehenden Briten auch Tausende französischer Soldaten zurück. Eine Ausnahme bildet da vielleicht die Sequenz mit den britischen Bürger-Booten, die noch am ehesten nach den alten Regeln bekannter Spielfilmpropaganda gestrickt ist. Sonst aber wird hier statt Glanz und Gloria eine Niederlage und Flucht gezeigt, die nur durch britische Propaganda in einen zweifelhaften »Sieg über Hitler« umgedeutet werden konnte.

Wie wichtig aber die Flucht der britischen Soldaten war, bringt das US-Magazin »Entertainment Weekly« auf den Punkt: »Wären all diese Soldaten umgebracht oder gefangen genommen worden, hätten die europäischen Geschichtsbücher heute nicht nur einen anderen Inhalt - sie wären auch in deutscher Sprache geschrieben.«

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