Als ob wir träumten
Simon Strauß hat ein literarisches Debüt vorgelegt, das gern ein Manifest geworden wäre
Es ist zu vermuten, dass Simon Strauß auf die Frage, was ein unscheinbares 16-jähriges Mädchen aus dem beschaulichen Pulsnitz unter IS-Soldatinnen im syrischen Kriegsgebiet zu suchen hatte, mit einer plausiblen Antwort aufwarten würde. Die »Reifeprüfungen«, denen sich der Ich-Erzähler seines literarischen Debüts ohne Not aussetzt - ohne äußere Not jedenfalls -, sind zwar deutlich harmloser als die Nestflucht der sächsischen Schülerin in die Krallen der islamistischen Terrormiliz. Der innere Antrieb, sich auf sie einzulassen, könnte aber ein ähnlicher sein: »Weil mir die Gefahr sonst nirgends begegnet«, heißt es da, »muss ich sie mir selber suchen.«
Bei dem 29-jährigen Technikverächter Strauß sind die Seelenfänger, die das schwebende Ich bei seiner Sehnsucht packen, nicht auf Facebook unterwegs wie im Falle von Linda W. Hier gibt ein angeblich entfernter Bekannter, der im Gegensatz zum Erzähler die Schwelle zur 30 schon überschritten hat und insgeheim wohl kein anderer ist als dessen reiferes Alter Ego, die Rolle des mephistophelischen Verführers. An einem heißen Spätsommertag schließen die beiden - bei »Burrata und Bresaola, Aperol Spritz und Bier« - ihren Pakt: Wenn der Jüngere sich in sieben Nächten den sieben Todsünden aussetzen und jeweils noch in derselben Nacht darüber schreiben würde, könne er ihm seinen innigsten Wunsch erfüllen - den Wunsch »nach Geheimnis und Gegenwelt«.
So nachfühlbar die Sehnsucht des allzu Reibungsschwachen ist, aus den vorgezeichneten Bahnen auszubrechen und sich dem Unbedingten hinzugeben, so alt ist sie auch. Von der Verheißung, diese Sehnsucht nächtelang zu erfüllen, lebt die Kunst, lebt die Literatur, die Strauß in unzähligen Referenzen als Kronzeugen heranzieht. Mit dieser Verheißung sind auf der anderen Seite aber auch Heerscharen in Kirchen, Parteitagshallen und Kasernen gelockt - und später dann viel zu oft auf Friedhöfe verfrachtet - worden. »Niemand wünscht sich einen Krieg«, heißt es einmal in diesem Buch, »aber ...« Und dieses »Aber« lässt mich erschaudern, ehe ich weiterlese, weil ich unwillkürlich an die Schlachtlust unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg denke, vor der auch Künstler nicht gefeit waren. »Aber«, führt Strauß seinen Satz dann vermeintlich harmlos zu Ende, »die Chance des Neuanfangs, der Gründerzeit, der Wunderkinder, von der darf man doch träumen.«
Träumen darf man nicht nur, man träumt für gewöhnlich auch, ohne sich vorher die Erlaubnis dafür einzuholen. Wenn der Traum aber, wie in Strauß’ den Zorn beschwörender Prosa, zur rücksichtslosen Übersetzung in die Wirklichkeit drängt, dann wird es heikel. Immerhin, hier ist es Prosa mehr denn Propaganda. Gleichwohl wird das Ziel postuliert, »eine Spur« zu »hinterlassen für alle, die noch erschütterbar sind«.
Die Prüfungen, denen der Erzähler sich erklärtermaßen aus keinem anderen Grund stellt als aus dem, für das unweigerlich folgende Erwachsenenleben mit einem Schuss Eigensinn gewappnet zu sein, muten im Vergleich zu dem, was der Selbstmordattentäterin oder dem Kriegsfreiwilligen an Endgültigem blüht, nachgerade albern an: Er springt, selbstredend angeleint, von einem Hochhaus, um sich anschließend über den pflichtversessenen Pöbel erhaben zu fühlen und seinen Allmachtsfantasien nachzuhängen (Hochmut). Er füllt sich in einem Sternelokal mit Fleischspezialitäten ab, um den Konsensvegetariern die Stirn und dem trainierten Wanst Platz für Fettspritzer zu bieten (Völlerei). Er bleibt ein paar Stunden lang in seiner Wohnung, um sich vorzustellen, jemand würde ihn in seiner selbstverschuldeten Einsamkeit beobachten (Faulheit). Und so weiter. Das einzige Ende, das dem Erzähler droht, wenn er doch endlich 30 wird, ist das Ende der Verantwortungslosigkeit.
All dies Banale und Verkehrte trägt Strauß aber in einem Brustmuskelton vor, der einige Rezensenten schon Sinn und Verstand verlieren ließ: »Endlich ist er da: der Roman der Generation der Endzwanziger«, verkündet etwa Björn Hayer in der »Berliner Zeitung« und wird seiner Verzückung gar nicht mehr Herr: »ein überaus großer Wurf«, ein »funkensprühendes Pamphlet«. Die Zukunft sei »nicht verloren«. Sie beginne »erst noch, vielleicht endlich mit diesem Roman«. In der »Zeit« will Florian Illies, einst selbst Begründer einer Generation, nämlich der wohlstandsentschärften »Generation Golf«, in Strauß’ Buch »ein Manifest« erkennen, »schnell zu lesen, schwer zu vergessen«, und Jochen Overbeck von Spiegel-online eines »wider den Zeitgeist«.
»Wenn von einem WIR die Rede ist, fühle ich mich provoziert«, heißt es bei Simon Strauß. Was ihn nicht daran hindert, beständig für viele zu sprechen: »Was wir brauchen, sind wieder mehr Ausrufezeichen - sonst reden wir am Ende nur noch mit uns selbst.« Mehr als einmal fragt der Erzähler sich selbst und seine Leser vorwurfsvoll: »Was für eine Meinung vertrittst du, die nicht auch die Mehrheit teilt?« Was mich betrifft: Ich wünsche mir weniger Ausrufezeichen, weil die nur mit sich selbst reden, bevor sie ihre Gegner totschlagen. Und ich teile die Euphorie über dieses Büchlein nicht, das vom Verlag zwar ästhetisch sehr ansprechend hergestellt wurde, aber unterm Strich weder Manifest ist noch Roman.
Statt zu erzählen, beschränkt Strauß sich über weite Strecken aufs Lamentieren, was als Feuilletonist und Nachfolger des FAZ-Theatergroßkritikers Gerhard Stadelmaier womöglich seines Amtes ist. Von Literatur aber, wie etwa Clemens Meyer sie mit seinem großen Roman »Als wir träumten« geschaffen hat, der die Erfahrungen einer Generation nicht in essayistische Versatzstücke packt, sondern in lebenssatte Geschichten, ist Strauß weit entfernt. Während sich Meyers Roman und jede einzelne seiner Erzählungen lesen wie lang nachwirkende Filme, lesen sich Strauß’ tagebuchartige »Sieben Nächte« wie ein larmoyant verläpperndes Gebet. Ein Gebet, dessen Urgrund die Angst (nicht etwa die vor dem Zerfall der Gesellschaft, vor dem Terror oder vor dem Verrecken des Planeten, sondern die Angst vor dem folgenlosen eigenen Verdämmern) und, ja, die Selbstverachtung sind: Wir »taten so, als ob wir träumten«, heißt es einmal. »Von einem ehrlichen, entzündeten Leben. Von Zeit. Viel Zeit, die wir gemeinsam nutzen würden, um an einem Entwurf zu arbeiten, einem Manifest. Daraus ist nie etwas geworden.«
Wenn Strauß nicht an anderer Stelle - »Der einzige Kampf, der jetzt noch lohnt, ist der ums Gefühl. Die einzige Sehnsucht, die trägt, ist die nach dem schlagenden Herzen« - so vehement gegen die Ironie und den Zynismus polemisieren würde, man könnte solche Eingeständnisse des Scheiterns am eigenen Anspruch bitter-lustig finden. Strauß aber ist es so ernst, wie es seinen Vorbildern, den Romantikern des 19. Jahrhunderts, mit ihren Als-ob-Träumen war. Doch selbst zu deren Konversion zum Katholizismus (wenn schon nicht zum Islam), mit der Botho Strauß’ Sohn zuweilen hinter vorgehaltener Hand kokettiert, fehlt seinem Erzähler am Ende die Kraft: »Ein Abzweig nach Rom, ein tatsächlicher Ausbruch, kommt wieder nicht dazwischen.«
Des Öfteren betont der Erzähler, dass er sein Hemd gern weit geöffnet trägt - gerade so, könnte man meinen, wie der Autor auf dem Umschlag-Foto. Mich erinnert dieses Bild an das vor ein paar Jahren aufgetauchte Porträt, von dem man annimmt, dass es Georg Bücher darstellt. Büchner, der nur 23 wurde und der so lebte, so leben und schreiben musste, wie Simon Strauß es gerne täte. Es mag der Zynismus eines Über-Vierzig-Jährigen sein, aber ich wage an dieser Stelle die Prognose: Ein Büchner wird Simon Strauß nie im Leben, ein Büchner-Preisträger vielleicht.
Simon Strauß: Sieben Nächte. Blumenbar bei Aufbau, 144 S., geb., 16 €.
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