»Ich werde nicht fortgehen«

Niroz Malek: »Der Spaziergänger von Aleppo« - ein Sprachkunstwerk, ein Zeugnis des Widerstands

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Flaneur im Krieg? Von Spaziergängen konnte doch nicht die Rede sein im umkämpften Aleppo. Der Park, wo er als Kind auf der Schaukel in den Himmel flog, wo er als Student des Instituts der Schönen Künste unter freiem Himmel zeichnete, wo er mit der geliebten Frau die Sonnenuntergänge genoss, war zu einer Stätte des Todes geworden. Kindergräber. Die meisten Bäume schon gefällt, auch die grünen, die eigentlich nicht brennen konnten. Aber wenn es überhaupt kein Brennholz gibt im kalten Winter ...

»Der Spaziergänger von Aleppo« - das klingt wie bittere Ironie. Und doch will der syrische Schriftsteller und Maler Niroz Malek ein solcher sein. Als wieder einmal ganz in der Nähe seiner Wohnung eine Bombe explodiert, ist er darüber mit einer fernen Freundin oder vielleicht auch mit sich selbst im Gespräch. »Willst du nicht wie die anderen Leute Dokumente und Habseligkeiten für die Flucht in deinen Koffer packen? Du unterscheidest dich doch nicht von all den anderen, die aus den Stadtvierteln fliehen, die bereits in Schutt und Asche gebombt wurden.« Aber wie soll er denn seinen Schreibtisch verlassen? »Was immer auch geschieht, ich werde nicht fortgehen.«

So ist Niroz Malek, 1946 in Aleppo geboren und im arabischen Raum durch seine Kurzgeschichten bekannt, zu einem Kriegsberichterstatter geworden. Einem poetischen Kriegsberichterstatter: Beim Lesen staunt man, wie das möglich ist. Er schreibt nicht lediglich auf, was er erfahren und erlebt hat, er sieht sich nicht einfach als Reporter des Schreckens. Seine Kunst ist Widerstandsleistung, Schutzmantel, auch wenn er genau weiß, dass letztlich nichts ihn schützen kann.

»Bete für mich, daß der Scharfschütze, der die ganze Nach seine Opfer gezählt hat, schläft, wenn ich am Checkpoint ankomme«, sagt der Briefträger. So kann der Absender nur hoffen, dass sein Gruß die ferne Geliebte erreicht. Gefährlich, aus dem Haus zu gehen. Wo soll er seine Freunde treffen? Die meisten Cafés haben geschlossen. Und einmal geschah es sogar, dass er in einem Café ankam, sein Stuhl am Tisch war aber leer, und seine Freunde senkten trauernd die Köpfe.

Wer lebt, konnte in Aleppo jeden Moment tot sein, und manchmal laufen die Toten in diesen Texten zusammen mit den Lebenden durch die Stadt. Makabre, albtraumhafte Szenen wechseln im Buch mit realistischen Beschreibungen, die nicht minder beklemmend sind, und mit phantastischen Träumen. Als er mit einem Freund auf der Suche nach einem Café, das noch nicht geschlossen ist, kreuz und quer durch die Stadt irrt, dabei immer wieder gefährliche Checkpoints passieren muss, gelangen sie am Ende zum Fluss. »Vor uns lag ein grüner Teppich aus Gras und Gebüsch. «Atme tief ein, sagte ich zu meinem Freund, dann mach mir nach, was ich tue … Eins, zwei drei … Und bei drei rief ich: Los, spring mit mir in den Himmel. Und wir schwebten hoch oben, so frei und ungebunden wie die Figuren Chagalls in seinen blauen Himmeln.»

57 kurze Texte, zunächst auf Facebook veröffentlicht: In Paris wurde ein Buch daraus und mit dem Prix L’orientales ausgezeichnet. Inzwischen gibt es auch eine Übersetzung ins Schwedische. Was wir durch die Kunst der Arabistin Larissa Bender und durch die verlegerische Entschlusskraft von Stefan Weidle nun auf Deutsch lesen können, bringt dieses Aleppo, von dem wir fast täglich in den Nachrichten hören, ganz nah an uns heran und ist zugleich ein beeindruckendes Sprachkunstwerk.

Immer wieder erleben wir, wie der Autor die Traditionen der Weltkultur und die Kraft seiner eigenen Kunst beschwört, um seine geistige Integrität zu bewahren. Und wenn man sich ihm in Gedanken an die Seite stellt, um mit ihm um ein friedliches Leben in Syrien zu beten, trifft einen zugleich das Gefühl der Ohnmacht. Kunst kann einem helfen, so lange man am Leben ist. Das immerhin.

Niroz Malek: Der Spaziergänger von Aleppo. Miniaturen. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Weidle Verlag, 140 S., br., 17 €.

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