Tätowierte Roboter mit leeren Augen
Das eigentlich Schlimme an den Exzessen im Profifußball ist, dass er sein Gift bis hinunter in den Amateur- und Jugendfußball verteilt, meint Christoph Ruf
Drei Nachrichten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Erstens: Der sehr talentierte Fußballspieler Neymar wechselt für 222 Millionen Euro von Barcelona nach Paris. Zweitens: In einer Landesliga irgendwo in Deutschland schießt ein junger Mann über drei Jahre lang fast in jedem Spiel einen Treffer – und wird von unzähligen Beratern und Einflüsterern bedrängt, er möge auf den Profifußball setzen und die begonnene Berufsausbildung sein lassen. Drittens: Ein Spieler in einem anderen Landesteil schlägt das Angebot eines Oberligisten aus und wechselt in die zwei Klassen tiefer gelegene Landesliga. Er bekommt dort 200 Euro mehr im Monat und kaschiert das durch eine der handelsüblichen Floskeln: »Das Bauchgefühl« habe den Ausschlag gegeben. Auch Neymar, der in Frankreich 30 Millionen Euro netto pro Jahr verdient, habe »auf sein Herz gehört«. Er sei »nie von Geld motiviert gewesen«.
Das wirklich Schlimme an einem sich immer weiter überhitzenden Transfermarkt ist allerdings nicht, dass ein Wechsel 220 statt 150 Millionen Euro umfasst – beide Summen sind obszön und im Wortsinne unfassbar. Wirklich schlimm ist, dass der Top-Fußball mit all seinen Perversionen bis in den Amateur- und Jugendbereich hinein sein Gift sickern lässt. Dass heute schon bei D-Jugend-Turnieren Scouts und Berater am Spielfeldrand herumstehen, ist ebenso logisch wie pervers.
In der Hoffnung, irgendwie, irgendwo, irgendwann den nächsten Neymar an Land zu ziehen, holen einige Bundesligisten schon Zwölfjährige zu sich, mancher ambitionierte Verein bildet Hunderte Jugendliche in seinem Nachwuchs aus. Sie alle zu beherbergen, zu trainieren, zu versorgen ist schließlich ein Klacks im Vergleich zu der Summe, die hereinkäme, wenn einer davon tatsächlich zum Star würde. Und wenn er nur Stammspieler des eigenen Bundesligateams wird, haben sich die Unsummen ebenfalls schon gelohnt. Denn seit der Explosion der Ablösesummen vor zwei, drei Jahren kostet eben auch ein durchschnittlicher Erstligaprofi schon mal gerne eine zweistellige Millionensumme.
Wo Geld verdient wird, lungern Berater herum, seriöse wie unseriöse. Und wer von denen den Kapitalismus ganz besonders gut verstanden zu haben glaubt, rät einem 16-Jährigen gerne, »all in« zu gehen. Was kümmert es ihn, wenn er als 20-jähriger Gescheiterter dann doch in der Oberliga kickt – ohne Berufsausbildung? Er hat ihm ja schließlich schon als 15-Jährigem »Werte vermittelt«, wie diese Menschen dann gerne sagen. Einer davon: Bestreite öffentlich immer, dass Geld bei irgendeiner Entscheidung eine Rolle gespielt habe. »Bauchgefühl« klingt besser.
Dass die branchenüblichen Null-Sätze irgendwann vom TV-Fußball auch in den unteren Ligen ankommen würden, war klar. Schlimmer ist, dass auch die Verhaltensweisen dort ankommen. Man mag die Fußballspieler von früher, die so gerne als »Charaktere« gepriesen werden, die Effenbergs und Baslers, nicht sonderlich vermissen, doch im Vergleich zu den Heroen, die der offizielle deutsche Fußball dieser Tage zu Stars aufbaut, sind einem selbst die größten Prolls in Sandaletten noch lieber.
Als Timo Werner beim Länderspiel in Nürnberg ausgepfiffen wurde, war die Empörung bei Joachim Löw und Oliver Bierhoff riesig. Dabei hätte man sich durchaus mal überlegen können, ob ein Spieler nicht zu Recht geächtet wird, der 400 Kameraeinstellungen braucht, die ihn der Lüge überführen, um einen tolldreisten Täuschungsversuch zuzugeben.
Wer nicht ein kritisches Wort zum überführten Lügner und Täuscher Werner findet, kann sich im Jugendfußball alle Kampagnen sparen, die an Fairplay und Respekt vor dem Schiedsrichter appellieren. Das Gleiche bei der Kapitänswahl der DFB-Auswahl. Muss es wirklich Julian Draxler sein, der die Binde bekommt? Ein Mann, der sich trotz eines geschätzten Jahresgehalts von sechs Millionen Euro weigert, seinem Team, dem VfL Wolfsburg, gnädigerweise ein wenig beim Kicken zu helfen? Und der seinen Wechsel zu Neymars Paris durch Leistungsverweigerung erpresst?
Ja, so einer muss es sein. Und auch deshalb kann sich der DFB alle Krokodilstränen über den Sittenverfall im Amateurfußball sparen. Wer tätowierte Sprachroboter mit leeren Augen zu Vorbildern kürt, darf sich nicht wundern, wenn in der Landesliga geheuchelt wird und in der F-Jugend Schwalben trainiert werden.
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