Bomben auf die Stadt
Notizen aus Venedig
Darauf, Venedig mit einem unaufhörlich schmelzendem Stück Zucker in einer Tasse Tee zu vergleichen, muss man erst einmal kommen. Es ist ein echt britisches Bild für den vermuteten Untergang der Lagunenstadt. Und tatsächlich stammt es von John Ruskin, der 1845 in die von österreichischen Truppen besetzte Stadt eilte, um sie noch schnell zu zeichnen und - zu fotografieren!
Damals entstanden seine eindrucksvollen Daguerreotypien, die etwas vom elenden Alltag Venedigs zeigten. Eine ungeheuer schmutzige Stadt, die krank machte, und in der viele Menschen lebten, die so arm waren, dass sie hungerten. Ruskin interessierte sich jedoch mehr für die Häuser, die die Italiener in seinen Augen unsachgemäß restaurierten und derart das Stadtbild ruinierten. Also begann er das Mammut-Werk »Steine«, in dem er jedes der in Venedig bekanntlich durchnummerierten Häuser zeichnen und so für die Nachwelt festhalten wollte.
Ganz fertig geworden ist er damit, Venedig zu vermessen, allerdings nicht. Immerhin war es Ruskin, der die erste Bombardierung einer Stadt aus der Luft erlebte - und als technische Meisterleistung bewunderte. Von Fesselballons aus warfen während der 1848er Revolution die Österreicher Bomben über dem Markusplatz ab und schossen mit Kanonen ins Stadtzentrum: »Wir hörten von einer englischen Familie hier im Hotel, dass die meisten Kanonenkugeln und Granaten, die während der Blockade auf Venedig abgeschossen wurden, in den Canal Grande fielen und dass einige Paläste stark zerstört wurden.«
So macht man sich bei den Einheimischen nicht beliebt, und der Wille, die Österreicher aus der Stadt zu vertreiben, wurde bei den Aufständischen nur noch größer. John Ruskin (so absurd geht es in den Köpfen von Reisenden der Oberschicht zu) verachtet einerseits die Italiener, weil sie die Häuser nicht stilgerecht restaurieren, aber bewundert andererseits den Initiator dieses welthistorisch ersten Luftangriffs, den Artillerie-Offizier Karl Paulizza. Ganze Häuserzeilen wurden in Schutt und Asche gelegt, viele Menschen starben. Ruskins Frau Effie schreibt 1850 ihrem Vater in England: »Ich bin außerordentlich stolz auf ihn, da er kein gewöhnlicher Charakter ist, obgleich Du nicht der Meinung sein wirst, dass es für ihn spricht, wenn ich dir erzähle, dass er es war, der all die Bomben auf Venedig abgeschossen hat. Ich vermute, er hat deswegen jeden Tag geweint, aber es war seine Pflicht.« Venedig ist für vieles eine Urzelle, auch für Betrachtungen über Pflicht und Gewissen vor der Geschichte.
Zurück zum Bild vom schmelzenden Stück Zucker im Tee. Der Tee liegt unter mir und meinem winzigen Balkon über dem Rio di S. Giustina-Kanal. Durch den müssen anscheinend alle Wassertaxen zwischen Flughafen und Markusplatz hindurch. Braun, aber nicht goldbraun, sondern eher fäkalbraun, schwappt das von den Motoren aufgewühlte Wasser gegen die Fundamente, die tatsächlich wie Zucker dahinschmelzen. Putz in den Mauerfugen sieht man so gut wie gar nicht mehr.
Unter mir ist also nur Wasser, wenn mir hier der Bleistift runterfällt, schwimmt er einfach davon. Auf der anderen Seite des Kanals verläuft ein Bürgersteig, da gehen die Besitzer abends mit ihren Hunden spazieren, die offenbar den ganzen Tag eingesperrt waren, so wild springen sie nun laut bellend umher. Der Zweck des kurzen Freilassens aber ist ein anderer. Und so hocken sie sich schließlich der Reihe nach hin. Die eifrigen Besitzer kommen dann sofort mit einem Stück Papier oder einer Plastetüte, sammeln die Hinterlassenschaften auf - und werfen sie mit Schwung in den Kanal. Schöner Tee.
Übrigens bin ich hier ein beliebtes Fotoobjekt, was damit zu tun hat, dass echte Venezianer nicht in der Mittagshitze auf ihren Balkons herumsitzen, sondern die Fensterläden zuklappen und bei laufender Klimaanlage das Dasein von Scheintoten proben. So aber biegen die Taxen in den Kanal, all die japanischen, russischen und amerikanischen Smartphones für die ersten authentischen Venedig-Bilder sind gezückt - und wen erblicken sie? Genau, jemand, der hier genauso fehl am Platze ist wie sie selbst, aber das wissen sie nicht. Sogar die Wassertaxi-Fahrer, bekannt für ihre Unhöflichkeit (man hat es nun mal nicht nötig), nicken mir mittlerweile zu, herablassend zwar, aber immerhin - und ich nicke mit konzentrierter Zerstreutheit aus meinem Buch aufblickend zurück. Wenn die wüssten.
Was immer wieder irritiert, ist der offene Umgang mit dem Tod in Venedig. Den haben sie sich von den Millionen Touristen noch nicht kaputtmachen lassen. Vor meinem Balkon, auf der anderen Seite des Kanals, liegt zwei oder drei Mal in der Woche eines jener grauen Boote des »trasporto funebre«, ein schwimmender Leichenwagen. Es ist die »San Michele 2« von der Friedhofsinsel, die dem Ospedale passenderweise gleich gegenüber liegt. Wer weiß, worauf der wartet, fragte ich mich die ersten Male nicht ohne leichtes Schaudern.
Um punkt zwölf Uhr mittags kommt dann ein junger Mann mit Sonnenbrille herbeigeschlendert, in Jeans und schwarzem T-Shirt, springt lässig ins Boot und fährt davon. Inzwischen weiß ich auch, wohin: auf die andere Seite des Ospedale, wo sich die Aufbahrungshalle befindet, die vormittags geöffnet ist und in die ich auch einmal, von falscher Neugier getrieben, eintrat. Daraus will ich aber keine Angewohnheit machen.
Bei Alfred Kerr las ich von einem ähnlichen Erlebnis in Paris, als er zufällig eine Halle betrat, wo hinter einer Glasscheibe lauter Tote aufgebahrt waren, die sozusagen als herrenlos galten und über die man, so man konnte, Angaben machen sollte. Dem Theaterkritiker Kerr fiel - es war Ende des 19. Jahrhunderts - dazu nur ein: Die sind doch wohl nicht echt, all diese Wachspuppen? Doch, entgegnete ihm ein Wachmann, die sehen nur so frisch aus, weil sie künstlich gekühlt werden. Auf derartigen Luxus verzichtet man, des morbiden Effekts wegen, üblicherweise in Venedig.
Gunnar Deckers »Notizen aus Venedig« der Vorjahre sind im Buch »Venedig für Skeptiker« erschienen (Quartus-Verlag, 168 S., 16,90 €) und erhältlich im nd-Shop, Tel.: (030) 2978-1777.
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