Das Grinsen aus der Hohlkammer
Mit Sicherheit für Zukunft und irgendwas mit digital - ein Spaziergang unter Berliner Wahlplakaten
Seit einigen Tagen ist für Laternen und andere Möbel des öffentlichen Raums die »erlaubnispflichtige Sondernutzung« gestattet. Darunter ist das Aufhängen von Plakaten zur diesjährigen Bundestagswahl zu verstehen. Wenn dieselbe allein in Berlin über 200 000 Mal genutzt wird, mag man die bundesweite Dimension gar nicht abschätzen.
Obwohl es nicht so ausschaut, als gäbe es unter den Spitzenkandidaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen um das Kanzleramt, ist die Stadt nun mit Köpfen gepflastert. Vor meiner Haustür in der Prenzlauer Allee hängt etwa ein Triptychon: Mindrup, Meyer, Liebich. Der erste lächelt seit Jahren für die SPD, der zweite schaut als »Tegelretter« freidemokratisch entschlossen drein und der dritte ist von der Linkspartei. Kennst Du einen, kennst Du alle, sagt der Volksmund.
Stadtein- und stadtauswärts verfolgt einen kilometerweit der Tegelretter. Als sei die Frage, ob der alte Westberliner Flughafen offenbleibt oder nicht, im Bundestag abzustimmen. Der Retter schaut mich an, als wüsste er genau, dass auch ich hin und wieder vom Flughafen Tegel in den Urlaub starte und trotzdem dagegen bin, ihn offenzuhalten, im Interesse aller Tegeler übrigens. Eigentlich bin ich hier die Tegelretterin, lieber Herr Meyer, aber auf mich hört ja niemand. Das wünsche ich Ihnen, mit Verlaub, übrigens auch.
Vergebens halte ich Ausschau nach einer Frauenlaterne. Stattdessen das nächste Herrentrio: Meyer von vorhin hängt ganz oben in seinem weißen, lässig aufgeknöpften Hemd und mit Dreitagebart. Unter ihm SPD-Zugführer Schulz, seriös in Schlips und Kragen und übrigens auch mit Bart, schön zurechtgestutzt, grau-schwarz-braun. Ob das echt ist? Hatten wir nicht schon einmal einen Kanzler, bei dem sich die Haarfarbenfrage stellte? Liegt das an mir, dass mir derart tiefschürfende Probleme in den Kopf schießen? Oder an denen, die sich so etwas ausdenken? Ganz unten jedenfalls Meiser (LINKE): jung, lange Haare, Kapuzenpulli, Spuren eines Bärtchens. Coole Mischung, die drei.
An der nächsten Kreuzung endlich eine Frau: Canan Bayram, die Grüne mit der grünen Jacke. Botschaft? Keine. Es ist nur eine Bundestagswahl, liebe Leute. Was soll sie da schon sagen? Das Gerede wird sowieso überschätzt. Auf dem nächsten Plakat werden die Grünen dafür dann aber doch so deutlich, wie es eben nur sie können: »Umwelt ist nicht alles, aber ohne Umwelt ist alles nichts.« Dann doch lieber Canan Bayram.
Richtung Weißensee erfreut mich das nächste Männertrio. Was glauben Sie, wer es auch dieses Mal ganz nach oben schaffte? Richtig. Der Tegelretter. Ganz unten der coole Linke von der vorletzten Laterne. In der Mitte ein Neuer von der CDU: Timur Husein. Und gleich gibt er einem Rätsel auf. »Mit Sicherheit« steht unter seinem Namen. Heißt er mit Sicherheit so? War davon nicht auszugehen? Oder will er mit Sicherheit in den Bundestag und heißt eigentlich anders? Will er später mal irgendwas mit Sicherheit machen?
»Die Zukunft Deutschlands ist die neue Seidenstraße«, lese ich auf dem Plakat der BüSo, einer seltsamen Bürgerbewegung, die sich auf Karl Marx und einen Herrn La Rouche beruft, den baldigen Systemtotalzusammenbruch voraussagt und deshalb die D-Mark wieder haben möchte. Ich würde ja gern wissen, wie das mit der Seidenstraße gemeint ist, aber andererseits bin ich doch froh, dass keiner von den 1000 BüSos in der Nähe ist, um es mir zu erklären.
Weiter weg ein Martin Schulz. »Volle Kraft voraus«, lese ich und finde, dass die altbackene Parole durchaus passt. Beim Näherkommen stellt sich heraus: Sie haben den Martin neben ein Plakat von Möbel Kraft gehängt. Ein Vorgriff auf eine Zukunft, in der gleich die Konzerne ins Parlament einziehen?
»Zu heiß für den Herd« findet Die Partei ihre rauchende Maria von Bella, die das Matriarchat in Pankow durchsetzen soll. Wie jetzt, war das zwischenzeitlich abgeschafft? Das habe ich gar nicht mitbekommen, in unserem Biomarkt mit seinen vielen Muttis gibt es das jedenfalls noch.
Apropos Mutti. Angela Merkel macht sich rar hier im Plakatwald. Lediglich an einer Ersatzhaltestelle an der Weißenseer Spitze hängt ihr Konterfei, dazu die Worte: »Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.« Da muss man achtgeben, nicht einzuschlafen. Aber selbst, wenn: In der Grellstraße, nomen est omen, wartet ein elektrisierendes Erwachen.
Da befinden sich nämlich die aufregendsten Plakate aller Zeiten, sozusagen die Sexiest-man-alive-Straßenshow mit Christian Lindner von der FDP: Die Sicherheit müsse besser organisiert sein als das Verbrechen, sagt er uns mit einem Blick, den George Clooney oder James Dean nicht besser hingekriegt hätten. Aufgeknöpftes weißes Hemd und Dreitagebart gehören anscheinend inzwischen zum FDP-Standard. Ein paar Meter weiter nur noch sein Gesicht: effektvolle Schatten und wieder diese Augen. Doch das ist noch nicht alles. Das nächste Plakat zeigt uns nur ein Auge und einen Teil des Gesichtes. Hier hätte inhaltlich etwas mit Mafia gepasst. Stattdessen geht es um Schule. Das vierte Bild vom Shooting zeigt uns fast den ganzen Lindner. Auch sehr schick. Die Parole habe ich vergessen. Irgendetwas mit Digital und First. Oder Second.
Übrigens hat sich nicht nur der Inhalt der Wahlplakate im Laufe der Jahre gewandelt. Bestanden sie laut Wikipedia früher meistens aus Papier, werden seit Mitte der 1990er Jahre wetterfeste Hohlkammerplatten verwendet, die direkt bedruckt und mit Kabelbindern befestigt werden können. Wenn Hohlkammerplatte auf Hohlkammerparole trifft, feiert die Demokratie ihr Hochamt.
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