Ölspur im Underground

Zum letzten Mal: Frank Castorfs »Ring des Nibelungen« in Bayreuth

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Bayreuth ist anders. Immer wieder frappieren die Rituale, die man hier pflegt. Dazu gehören: Kein Auftritts-Applaus für den Dirigenten, den man ohnehin nicht sieht, weil das Orchester von der Architektur in einen tiefen Graben versenkt wurde. Des Weiteren: Beim letzten Klingeln werden alle Türen zum Zuschauerraum nicht nur geschlossen, sondern tatsächlich (von innen) abgeschlossen. In allen Schlössern drehen sich gleichzeitig die Schlüssel, und man ahnt sich gefangen wie Alberich gleich vorn auf der Bühne. Wer jetzt noch kommt, bleibt draußen. Gibt es hier eigentlich so etwas wie Fluchtwege? Aber Flucht ist unter Wagnerianern strenger Observanz ohnehin nicht vorgesehen.

Nietzsche, der erst innig mit Wagner befreundet, dann ebenso innig verfeindet war, kam 1876 zum ersten »Ring des Nibelungen« nach Bayreuth und sah es mit Grausen. Sofort befiel ihn in diesem Riesenraum die Migräne und er notierte: »Wie nachteilig ist mir dieser Wagnersche Orchesterklang! Ich heisse ihn Scirocco. Ein verdrießlicher Schweiss bricht an mir aus. Mit meinem guten Wetter ist es vorbei.«

Tatsächlich ist der »Ring des Nibelungen« Hochleistungssport für ein eher unsportliches Publikum zwischen siebzig und neunzig. Aber dieses, lebenslang wagnertrainiert, erweist sich als hart im Nehmen. Gerade hat eine Studie über das Medienverhalten der Sechzehnjährigen festgestellt, dass diese Altersgruppe aufgrund exzessiven Smartphonegebrauchs physisch und psychisch mehrheitlich bereits nicht mehr in der Lage sei, neunzig Minuten still und konzentriert dazusitzen. Da ist der »Ring« natürlich ein harte Schule - buchstäblich, denn die Klappsitze sind aus Holz und so unbequem wie möglich. Schmerzen leiden für die Kunst!, lautet das Motto.

Natürlich fallen bei fast zweitausend hier eingepferchten Zuschauern immer einige an der »Ring«-Front. Man hört sie, still, oder höchstens mit leisem Seufzen, von ihren Sitzen rutschen - dann werden sie ebenso leise herausgetragen. Auf keinen Fall wird unterbrochen. So ist Bayreuth. Ein Weihetempel des Musikdramas, in dem mancher zum Märtyrer wird.

Von Slavoj Žižek stammt das Urteil, Bayreuth sei das Mekka der kulturellen Fundamentalisten Europas. Zumindest seit Katharina Wagner dem Familienunternehmen vorsteht, stimmt das so nicht mehr. Immerhin holte sie bereits 2004 Christoph Schlingensief, der den »Parsifal« inszenierte, und dann 2013 Frank Castorf als Regisseur für den »Ring des Nibelungen«. Castorf sah sich angesichts des auch mit NS-Ideologie verseuchten Mythen-Terrains Bayreuths eher stimuliert: »Für mich hat so was immer etwas Lüsternes und auch ein bisschen Schockierendes.« Nun also läuft der Castorf-»Ring« zum letzten Mal, einen neuen »Ring« gibt es erst wieder 2020. Die Traditionalisten atmen auf.

Mit Castorf kam der Berliner Osten nach Bayreuth, mitsamt all dem Schmutz und der Grobheit, zu der man hier fähig ist, oder besser war, denn die Geschichte steht bekanntlich nicht still. Ein Faustschlag für Bayreuth, wo man in den Pausen immer noch von der »Zone« spricht und damit nicht der Andrej-Tarkowski-Film »Stalker« gemeint ist, sondern die DDR. Wie immer bei Castorf kommt alles im Übermaß - was vielleicht eine Trotzreaktion auf den Mangel ist, der Ostbiografien prägte. Der Berliner Alexanderplatz wird wie selbstverständlich zum Spielplatz für den jugendlichen Helden Siegfried und »Plaste und Elaste« werben für Produkte aus Buna-Schkopau. Vergesst mir den Osten nicht! Warum? Weil hier, das wussten viele gescheiterte Eroberer, viel Öl zu haben ist. Darum wird Baku zum zentralen Symbol dieses Öl-Rings mitsamt seinen Fördertürmen. Denn Alberichs geraubtes Rheingold ist heute das Öl. Maßlose Macht statt Liebe, so der faule Handel. Dafür scheuen die benzinsaufenden westlichen Industrien vor nichts zurück.

Das Bühnenbild stammt von dem Serben Aleksandar Denić, der schon für Emir Kusturica das Jugoslawienepos »Underground« ausstattete. Und dieser Underground wird nun auch hier - schon rein optisch - zum Leitmotiv. Worum also geht es in den kommenden vierzehn Stunden reiner Spielzeit - vom »Rheingold«-Vorabend über die »Walküre« und »Siegfried« bis zur »Götterdämmerung«? Castorf: »Ich glaube, Kinder verstehen es gut, Hochschulprofessoren haben ihre Schwierigkeiten damit.« Oder wie Loriot über das »Ring«-Personal sagte, eigentlich seien es »ganz nette Leute«. Das Problem, wie es sich im »Rheingold« darstellt: Göttervater Wotan hat Baupläne, aber kein Geld. Doch die geplante überdimensionierte Götterburg Walhall (eine Art mythischer Großflughafen) wird immer teurer.

Und damit beginnt das Drama dieser Immobilienunternehmung: mit folgenreicher Verschuldung. Denn die Bauunternehmer, die Riesen Fasold und Fafner haben ein Auge auf Freya geworfen, die den Göttern ihre ewige Jugend erhält. Sie ist das Pfand des Unterfangens. Und damit beginnt die schicksalhafte Verkettung, die zum Untergang der Götter und zum Weltenbrand führen wird.

Als ich den Castorf’schen »Ring« vor vier Jahren zur Premiere sah, war die Entrüstung im Publikum gigantisch. Der Regisseur wurde im Schlussapplaus von einer Hass-Woge aus dem Publikum überrollt. Was war es, was hier solches Erregungspotenzial besaß, denn schließlich wurde doch keiner einzigen Wagner-Note gar ein Haar gekrümmt? Ich denke, es ist der kühl analysierende Blick auf die Urszene des »neuen Menschen« des Industriezeitalters. Neuland gerät unter den Pflug und Schornsteine wachsen wie Schachtelhalme auf einer Sommerwiese. Nibelheim, die unterirdische Fabrik Alberichs ist überall.

Für Castorf und Denić berühren sich Ost und West in der dramatischen Geschichtsutopie des »neuen Menschen«, den Siegfried, der Held verkörpert. Dieser stößt dann Göttervater Wotan, als er ihm in Gestalt des Wanderers begegnet und den Weg versperrt, mit dem Ruf aller jugendlichen Barbaren »Geh mir aus dem Weg Alter!« einfach beiseite. Die »Kinder der Sonne«, wie sie Gorki erblickte, sind technische Pioniere, die ohne zu zögern mit der Vernichtung des Überkommenen rechnen.

Gleich zu Beginn des »Rheingold« finden wir uns in einer typischen Castorf-Szenerie wieder. Das Roadmovie, als das er den »Ring des Nibelungen«, die Jagd nach Macht durch Öl auffasst, beginnt in einem Motel an der Route 66 in den USA. Links ein Swimmingpool, rechts eine Tankstelle. Drei leichte Mädchen, die Rheintöchter, die das Gold auf dem Grund des Flusses bewachen sollen, rekeln sich gelangweilt am Pool, singen, hängen ihre Unterwäsche zum Trocknen auf eine Leine und warten auf Kundschaft. Die naht in Gestalt des Ring-Räubers Alberich.

An diesem »Rheingold-Vorabend, dem «Ring» im Kleinen, ist Castorf ganz bei sich. Er pendelt mittels Denićs grandioser Monumentalbühne zwischen Profitmaximierung als amerikanischem Tanz ums goldene Kalb und dem Subbotnik-Prinzip der sozialistischen Helden des Aufbaus. Der technische Fortschritt frisst seine Kinder? Wir sehen und hören lauter Anläufe aus verschiedensten Himmelsrichtungen, die Machtfrage im eigenen Interesse zu lösen. In «Siegfried» blicken wir auf Mount Rushmore, diesen «Heiligenschrein der Demokratie». Doch statt der amerikanischen Präsidenten Washington, Jefferson, Lincoln und Roosevelt sind da plötzlich Marx, Lenin, Stalin und Mao. Die Revolution als Aufstand Nibelheims!, jenes Proletariats, das sonst hier in Bayreuth nie vorkommt, das jedoch zum Motor - teils bewusst, teils unbewusst - der Weltgeschichte wird. Das ist drastisch, das ist gut. Dieses Inszenierungsprinzip, dem eine konsequente Lesart des «Rings» zugrunde liegt, die des Dramas, stößt in Gestalt Siegfrieds selbst jedoch auf etwas, das etwas gänzlich anderes ist: das Weib Brünnhilde (Catherine Foster, stimmgewaltige Britin aus Weimar). Sie lehrt Siegfried jenes Fürchten, das er unter den ihre Machtspiele spielenden Männern nicht kannte. Der Eros erzittert in der Musik! Und so kommt, vor allem in der «Walküre», mit der Musik etwas ins Spiel, das in Castorfs Nibelheim-ist-die-Welt-Lesart nicht aufgeht. Zumal Dirigent Marek Janowski, der in Berlin bereits für Bayreuth trainierte und den «Ring» konzertant aufführte (was eine zu Castorfs Lesart gegensätzliche Vereinseitigung des Musikdramas ist) in Bestform agiert. Bei ihm verbinden sich alterssicherer Rhythmus, der weder jagt noch schleppt, und das energische Ausspielen musikalischer Drehpunkte des «Rings». Um die jedoch kümmert sich Castorf wenig.

So muss das Publikum aufpassen, dass es Feuerzauber nicht verpasst oder die entscheidende Begegnung von Wanderer Wotan mit Siegfried, die er lässig in die Höhen von Mount Rushmore verlegt, ganz oben und ganz an die Seite des Bühnenbildes, sodass es ein Teil des Publikums gar nicht erst sehen kann.

Castorf kann ein echter Spielverderber sein, wenn es darum geht, Erwartungen, die er nicht teilt, zu zerstören. Er inszeniert hier keine Apotheose der Liebe, die auch im «Ring» verborgen liegt, er glaubt dem Waldvögelchen nicht, und für Siegfrieds Trauermarsch scheint er taub. Er horcht stattdessen auf die Geräusche aus der Tiefe unserer industriellen Hybris. Castorf interessiert sich für das, was der «Underground» in sich birgt - Drohung ebenso wie Verheißung für die Zukunft. Das ist grob rücksichtslos und auf visionäre Weise intelligent. Denn Castorf selbst ist ein Siegfried, der mit seiner Wunde einfach weiterlebt, irgendwie.

Letzte Vorstellungen vom 23. Bis 28. August

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