Feindbild: Immigrant

Im Kino: »Sacco und Vanzetti« von Peter Miller

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Mythos ist eindeutig, seine Anziehungskraft ungebrochen: die USA, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der goßen Freiheit, der unendlichen Weiten. Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti erlebten das gelobte Land ganz anders.

Weil Immigranten im Allgemeinen und Italiener im Besonderen nicht sonderlich hoch im Kurs standen in der öffentlichen Meinung der USA so kurz nach dem Ersten Weltkrieg, weil Sacco und Vanzetti Anarchisten waren (und also der Überzeugung, der Staat solle sich heraushalten aus den unbegrenzten Möglichkeiten, der großen Freiheit des Einzelnen), weil sie nicht am Krieg teilgenommen hatten und weil sie am Tag der Tat bewaffnet waren (aber wer ist das nicht in diesem Land des gegenseitigen Misstrauens und der harten Grenz-Mythen), wurde an ihnen ein Exempel statuiert, wurden sie für ein Verbrechen zum Tode verurteilt, das sie wohl nie begangen haben.

»Sacco und Vanzetti« von Peter Miller stammt aus dem Land, das die beiden auf den Elektrischen Stuhl schickte, ohne Ansicht der Beweislage (einige der Beweismittel wurden möglicherweise sogar untergeschoben, um das Urteil zu forcieren) oder selbst eines späten Geständnisses von dritter Seite, das sie von jeder Schuld an dem doppelten Raubmord vollständig entlastete. Der Lohnbuchhalter und sein bewaffneter Begleiter, den jemand im April 1920 wegen einer Lohnkasse mit rund 15 000 Dollar in Boston auf offener Straße erschoss, war demnach von einer notorischen Bande Krimineller und Gewohnheitsverbrecher getötet worden. Eines der Mitglieder, bereits für einen anderen Mord verurteilt, gestand im Gefängnis Jahre später nun auch diesen Doppelmord - und wurde ignoriert.

Denn wer glaubt schon einem Verbrecher - noch dazu, wenn der selbst Immigrant ist, Portugiese in diesem Fall? Die stecken schließlich sowieso alle unter einer Decke und stehen immer füreinander ein, diese Immigranten, diese Europäer - oder etwa nicht?! Und echte Amerikaner sind sie natürlich auch nicht, nicht in dieser ersten, die Sprache noch mit dem heimischen Akzent sprechenden Generation. Ein wenig von diesem Vorbehalt übernimmt sogar der Filmemacher, wenn er zwei US-Schauspieler die Briefe der beiden aus dem Gefängnis lesen lässt - John Turturro für Vanzetti, Tony Shalhoub für Sacco - und beide sich dafür einen Akzent zulegen, obwohl das Schriftbild der Briefe klares Englisch zeigt, ohne Zögern, ohne Ausstreichungen - wenn es denn die Originalbriefe sind.

Ein Richter voller Vorurteile, ein Verteidiger, der als radikal bekannt war und ihre Sache zum Feldzug gegen das gesamte US-amerikanische Rechtssystem machte, was den Vorurteilen von Richter und Jury Oberwasser gab, und schließlich, nach dem Schuldspruch, eine Instrumentalisierung durch die kommunistische Bewegung, die zwar internationale Aufmerksamkeit auf den Fall lenkte, die bürgerliche Rechte vor Ort in ihren mörderischen Vorurteilen aber noch bestätigte - Sacco und Vanzetti hatten von vornherein schlechte Karten. Unparteiisch, rein an Recht und Wahrheit interessiert, war in diesem Fall scheinbar niemand.

»Sacco und Vanzetti« wurde 2006 gedreht, zeitnah zum 80. Jahrestag ihrer Hinrichtung, die sich in dieser Woche zum 90. Mal jährt. Der Film hat an Aktualität nichts verloren. Wenn er am Ende all der Interviews und Archivbilder die Parallele zieht zu heutigen Immigranten, heutigen Vorurteilen, dem heutigen Nationalismus, der am Ende doch nicht ganz so liberalen, nicht ganz so gerechten, nicht ganz fairen Neuen Welt, sieht man dazu Bilder aus Guantánamo. Und reagiert mit einem doppelten Schock: so lange schon, der fast vergessene Skandal, der immer wieder hochkocht, um dann doch im Alltag unterzugehen. Denn wer hat schon Zeit und Nerven, zu tun, was getan werden müsste, und 24 Stunden täglich vor Botschaften zu protestieren? Und dann der Schock darüber, wie viele neue Bilder, wie viele neue Zyklen von Hass und Vorurteil und Mord und Totschlag man diesem und dem alten, dem Sacco-und-Vanzetti-Skandal, inzwischen noch hinzufügen könnte: Polizeigewalt gegen Schwarze, Reisebeschränkungen für Muslime, Grenzzäune gen Mexiko...

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