Vorreiter der Revisionisten
Klaus Gietinger und Winfried Wolf widerlegen Christopher Clark
Mit seinem Buch »Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog« hatte der in Großbritannien lehrende australische Historiker Christopher Clark Furore gemacht. Im deutschsprachigen Raum wurden mehr als 200 000 Exemplare verkauft.
Clark meint, dass die Regierenden aller beteiligten Mächte am Ausbruch des Ersten Weltkrieges gleichermaßen schuld gewesen seien. Damit entlastet er de facto die deutsche Reichsregierung. Er benennt zwar keine Hauptverantwortlichen für den Kriegsausbruch, seine Darstellung läuft aber auf eine Belastung der Regierenden Serbiens, Russlands und Frankreichs hinaus.
Seit den 1960er Jahren teilte die große Mehrheit der Historiker (auch der westdeutschen) die Auffassung von Fritz Fischer, Deutschland trage die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch 1914. Der Verkaufserfolg von Clarks Buch ist nicht zuletzt daraus zu erklären, dass es in Deutschland etliche Leute gibt, die sehr gern lesen, ihr Land trage keine Schuld am Ersten Weltkrieg.
Klaus Gietinger und Winfried Wolf verdeutlichen, dass Clark weder neue Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 erschlossen noch schlüssige Neuinterpretationen der einschlägigen Quellen vorgelegt hat. Sie zeigen, dass jener entscheidende Ursachen schlicht ausklammert, insbesondere die Zusammenhänge zwischen Imperialismus und Krieg und die Rolle des preußisch-deutschen Militarismus. Clarks Buch weise auffällige Disproportionen auf. Ein Viertel seines Textes ist ausschließlich Serbien gewidmet, das er als »Schurkenstaat« bezeichnet.
Clark verdrehe oft Tatsachen und verschweige Wichtiges, betonen Gietinger und Wolf. Ein Beispiel: Der britische Botschafter in Berlin, Edward Goschen, telegrafierte am Abend des 29. Juli 1914 an seinen Außenminister, Edward Grey, Reichskanzler Bethmann Hollweg habe ihm gegenüber erklärt: Wenn Großbritannien im Kriegsfall neutral bleibe, dann werde Deutschland kein französisches Gebiet annektieren. Grey lehnte den Vorschlag Bethmanns strikt ab, und Clark rügt ihn deshalb. Er verschweigt, weshalb Bethmanns Vorschlag für die britische Regierung inakzeptabel war: Goschen hatte auch mitgeteilt, dass Bethmann angedeutet habe, die deutsche Armee werde das neutrale Belgien überfallen und man wolle zwar kein französisches Territorium, wohl aber französische Kolonien annektieren.
Andere Autoren, so der Berliner Politologe Herfried Münkler, haben die Thesen Clarks aufgegriffen. Der britische Historiker John Röhl nennt jene Autoren »Revisionisten«. Ihr Ziel sei es, die Erkenntnisse der internationalen Geschichtswissenschaft zum Kriegsausbruch 1914 zu ignorieren und zur Sicht der 1950er Jahre vom »Hineinschlittern« in den Krieg zurückzukehren. Gietinger und Wolf haben einen wichtigen Beitrag zur Abwehr dieser Bestrebungen geleistet.
Klaus Gietinger/Winfried Wolf: Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am I. Weltkrieg erlöst. Schmetterling Verlag. 345 S., br., 19,80 €,
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