Polnischer Ruf nach Kriegsentschädigungen
Reparationsforderungen an Deutschland von bis zu 350 Milliarden Dollar im Gespräch
Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), bezeichnet es als »eine ausstehende historische Gegenoffensive«. Sie bestehe unter anderem darin, auf Forderungen nach Kriegsentschädigungen zurückzukommen, die Deutschland für die Zerstörung Polens während des Zweiten Weltkriegs zu leisten habe. »Wir reden hier über enorme Summen und auch über die Tatsache, dass die BRD sich viele Jahre geweigert hat, die Verantwortung für die Nazi-Verbrechen zu übernehmen«, sagte Kaczynski Anfang August im Polnischen Radio.
In der Tat prüft derzeit eine wissenschaftliche Kommission im Sejm, welche juristischen Möglichkeiten der Regierung in diesem Zusammenhang zur Verfügung stehen. Indessen glauben unabhängige polnische Juristen, dass Warschau lediglich antideutsche Ressentiments schüren wolle, jedoch rechtlich auf Granit beißen werde. »Die DDR hatte schon Reparationszahlungen geleistet und Polen selbst verzichtete 1953 auf weitere Forderungen. Das Potsdamer Abkommen wurde auch von den Westmächten akzeptiert, ich sehe hier also keinen Rahmen für eine Neubearbeitung des Themas, die Polen politisch übrigens noch mehr in die Isolation drängen würde«, meint Robert Grzeszczak von der Universität Warschau. Borys Budka, ehemaliger Justizminister und Vizechef der Bürgerplattform (PO), beteuerte jüngst gegenüber der »Zeit«, Kaczynski wolle die Deutschen mit allen Mitteln »in ein schlechtes Licht rücken«. Doch auch der Historiker Antoni Dudek, dessen Kolumnen in regierungsnahen Blättern keine Nähe zur Opposition vermuten lassen, versichert: »Die Angelegenheit ist längst abgeschlossen, ich sehe hier keine Chance für weitere Zahlungen.«
Dudek unterstreicht, dass Bonn 1960 mit mehreren westeuropäischen Staaten ein Globalabkommen zur Wiedergutmachung abgeschlossen hat, nach der Wiedervereinigung 1990 kamen entsprechende Entschädigungen unter anderem für Polen dazu. An die Weichsel flossen damals umgerechnet mehr als 250 Millionen Euro. Doch zu einem Friedensvertrag, der das Streitthema endgültig hätte lösen können, kam es nie. Berlin reagiert heute auf die entflammte Reparationsfrage mit dem Verweis auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, in dem die Reparationsfrage hinlänglich geregelt worden sei.
Völlig anderer Meinung ist Polens Verteidigungsminister Antoni Macierewicz. »Die deutschen Schulden für den Zweiten Weltkrieg sind keineswegs getilgt. Der Verzicht einer von Moskau aus gelenkten polnischen Regierung zählt nicht«, sagt der PiS-Politiker. Genannt werden gar 350 Milliarden Dollar, die weiterhin noch fällig seien. Sogar regierungsnahe Journalisten bezeichnen diese exorbitanten Summen als »vollends irrational«. »Einen Krieg auf allen Fronten zu entfesseln, hat uns schon einmal ins Verderben geführt. Kaczynski beruft sich zwar immer wieder gern auf Fidesz, nur ist Victor Orban klug genug, es sich nicht gleichzeitig mit Brüssel und Moskau zu verscherzen«, schreibt Pawel Lisicki.
Angeheizt hatte die Debatte eine Inszenierung von Anhängern des Fußballklubs Legia Warszawa am 2. August. Im CL-Qualifikationsspiel gegen den FC Astana hatten Ultras mit einem riesigen Banner an den Warschauer Aufstand von 1944 erinnert. Das Transparent, auf dem ein Wehrmachtssoldat einem kleinen Jungen eine Pistole an die Schläfe hielt, ging um die Welt.
Der hauptstädtische Klub wurde daraufhin von der UEFA bestraft. Fragt sich nur, warum? Es genügt, sich zu vergegenwärtigen, dass in den Jahren 1939-45 mehr als ein Fünftel der Bevölkerung Polens ermordet (darunter Tausende Kinder) und nicht weniger als 38 Prozent des Landes zerstört wurden, um die Schuld, die Deutsche an der Weichsel auf sich geladen haben, zwar nicht zu begreifen - denn sie übersteigt gewiss die kühnste Vorstellungskraft -, jedoch zu erahnen.
Dass nach 1945 wiederum Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen mussten, wird ebenso nicht zu einem vorurteilsfreien Verhältnis beigetragen haben. Dort aber, wo unüberschaubare Ressentiments am Werk sind, scheint Nüchternheit das erste Gebot zu sein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde auch viel für eine »nüchterne« deutsch-polnische Aussöhnung unternommen, im letzten Jahrzehnt jedoch leider einiges zunichte gemacht. Nicht Bekenntnisse sind daher erforderlich, sondern Fakten.
So betrachtet wäre es zum Beispiel sowohl fahrlässig, allen Deutschen die Schuld an der Nazi-Diktatur vorzuwerfen als auch den Polen eine »Mittäterschaft« anzuhängen und sie in einem Atemzug mit den kollaborierenden Ukrainern und Ungarn zu nennen. Es wäre schade, wenn das politische Erbe von Brandt und Bartoszewski durch unreflektierte Ausbrüche in Gefahr gerät.
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