Oder doch eine Welt zu gewinnen?
Das Rätsel »Merkel« und der Kapitalfetisch der Linken. Über den Zusammenhang zwischen der Lage der Arbeitenden und verändernder Politik
Der Ausgang der Bundestagswahl im September ist schon heute Gegenstand von Analysen, die das Ergebnis vorwegnehmen: Den Erfolg der CDU und ihrer Kanzlerin Angela Merkel. Leider sind viele dieser Analysen nicht wirklich hilfreich, um das wahrscheinliche Resultat auch zu erklären. So stellt Alban Werner verwundert die Staatsinterventionen in der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 dem ausgebliebenen »Rückenwind für einen linken Kurswechsel« gegenüber. Er hatte wohl anderes erwartet. Die politische Stabilität in der Bundesrepublik kann er sich nur mit den politischen Strategien der CDU-Führung – und den spiegelbildlichen Schwächen der Linken erklären.
Und Thomas Kuczynski sieht sogar die marxistischen Annahmen über den Zusammenhang zwischen der Lage der arbeitenden Klasse und linker Politik ins Gegenteil verkehrt: Da die Proletarier inzwischen mehr zu verlieren hätten, als ihre Ketten, sei von ihnen revolutionär nicht mehr viel zu erwarten. Aber ging es nicht auch darum, »eine Welt zu gewinnen«?
Tatsächlich ist die politische Stabilität der Bundesrepublik kein großes Rätsel. Seit 2004 hat der massive Kapitalexport alle Zweifel am weltwirtschaftlichen Erfolg der deutschen Unternehmen ausgeräumt. Nach dem Höhepunkt im Jahr 2005 nahm die Arbeitslosigkeit deutlich ab. Zu Beginn der Finanzkrise erklärte Angela Merkel im September 2007 im Bundestag: »In seinem Kern erzählt der Aufschwung, den wir jetzt erleben, eine großartige Erfolgsgeschichte: die Geschichte, wie Deutschland gleichzeitig Aufbauleistungen für die neuen Bundesländer und die Globalisierung bewältigen konnte. Meine Damen und Herren, wer das geschafft hat, dem braucht auch vor den Veränderungen des 21. Jahrhunderts nicht bange zu sein.« Die folgenden Jahre haben diese Einschätzung leider bestätigt. Die Dominanz der BRD in der Eurokrise stützt sich auf eine reale wirtschaftliche Überlegenheit.
Anderswo sahen die Folgen der Weltwirtschaftskrise anders aus. Zwar war es überall der bürgerliche Staat, der um Hilfe angegangen wurde. Die Freiheit des Privateigentums wurde in der Krisenbewältigung nicht angetastet. Aber mit den großen Staatsinterventionen verschärfte sich der Konflikt um die Besetzung der politischen Kommandohöhen. In den USA wurden die Republikaner im Crash 2008 abgewählt. Die Wiederwahl Obamas 2012 zeigte keine Stabilität, sondern die tiefe Spaltung der Eliten, die sich mit dem Amtsantritt Donald Trumps nur vertieft hat. In Großbritannien sind »New Labour« und die Konservativen nacheinander gescheitert. Die kleinbürgerliche Revolte in der Bundesrepublik in Gestalt der AfD kann mit solchen Erschütterungen des politischen Systems in Washington oder London nicht mithalten. Sogar in Japan wurde 2009 einmal die LDP, die übliche Regierungspartei, abgewählt. Nur in Deutschland heißt die Regierungschefin seit 2005 immer gleich.
Bei allen Unterschieden zwischen den Ländern gibt es aber eine Übereinstimmung: Politische Organisationen der arbeitenden Klasse spielten in den Krisenkonflikten nur in Ausnahmefällen eine selbständige Rolle. Ja, es gab die Zeit, als selbst Kommentare in der deutschen Mainstreampresse so getan haben, als wäre der globale Kapitalismus pleite und weigere sich nur noch, den Gerichtsvollzieher einzulassen. Aber das lag eher an den Kommentatoren.
Die Freunde der unbegrenzten Konkurrenz hatten damals Schwierigkeiten, ihre Polemik gegen einen teuren Staat mit dem dringenden Wunsch nach Begrenzung der Krisenfolgen für die Reichen zu verbinden. Die Keynesianer als die offizielle und loyale Opposition im modernen Kapitalismus fühlten sich schlicht bestätigt. Für sie war und ist die Reproduktion des Kapitals ein unerklärliches Wunder, das regelmäßig misslingen muss.
Die linksradikalen Kritiker des Kapitalismus schließlich vergaßen in ihrer beständigen Beschwörung der andauernden oder kommenden Krise, dass Marx den größten Teil des »Kapitals« auf die Untersuchung der Akkumulation, das heißt der ganz normalen Reproduktion der kapitalistischen Klassenverhältnisse verwendet hatte. Doch die Darstellung der realen Kräfteverhältnisse gilt vielen Linken als nicht ausreichend »mobilisierend«. Sie halten sich lieber an die Wiedergabe der vielen menschenfeindlichen Elemente des Kapitalismus – die den Betroffenen allerdings aus erster Hand bekannt sind und allein keinen Grund bilden, politisch aktiv zu werden: Aufwand, Risiken und Aussichten wollen abgewogen sein.
Dabei ist zu berücksichtigen: Einen sozialen und wirtschaftlichen Einbruch wie in der Weltwirtschaftskrise 1929-33 gab es nach 2007 nicht. Deshalb findet sich Thomas Kuczynski bestätigt: Da die Menschen etwas zu verlieren haben, werden sie nicht aktiv, sagt er. Aber warum? Warum ist es schlecht für die Beendigung des Kapitalismus, wenn die gesellschaftliche Arbeit so weit entwickelt ist, dass die einfachen Leute inzwischen auch etwas haben? (Wenngleich es ohne geregeltes Einkommen höchstens ein paar Wochen zum Leben reichen würde.) Der Kollege Kuczynski sitzt hier leider dem Kapitalfetisch auf, den er theoretisch doch perfekt analysieren kann. Für ihn erscheint im Reichtum der heutigen Gesellschaft nur die Macht des Kapitals.
Aber der Reichtum dieser Gesellschaft ist nicht das Produkt des Kapitals, sondern der gesellschaftlichen Arbeit. Wer in der entfremdeten Form des Reichtums nicht das Produkt der Arbeitenden erkennt, der bleibt noch hinter dem Alltagsverstand zurück, der immer wieder beides vorbringt. Einerseits: »Wir kleinen Leute können ja nix machen.« Andererseits: »Ohne uns läuft nichts.« Die erfolgreichen Kampagnen von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit ihren Adressaten in der lohnarbeitenden Bevölkerungsmehrheit beide Seiten dieser Medaille ernst nehmen, die Ohnmachtserfahrung wie den Anspruch auf gesellschaftliche Mitbestimmung.
Die Wiederaufnahme solcher linker Selbstverständlichkeiten in der aktuellen Politik ging in den USA wie Großbritannien mit einer Krise der traditionellen Vertreter der »kleinen Leute« einher. Soweit ist es hierzulande noch nicht. Denn die SPD hat sich zwar mit Hartz-IV strukturell mehrheitsunfähig gemacht, wird aber durch Teilhabe an Regierungsmacht noch hinreichend entschädigt.
Die parlamentarische LINKE dagegen etablierte sich seit 2005 so erfolgreich, dass sie über Wahlkampagnen hinaus auf eine soziale Verankerung nicht angewiesen ist. Ihre Aktivisten sind vielfach Funktionäre und aus dem Alltag der von ihnen vertretenen Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen ausgestiegen. Es hat sich eine gegenseitige Instrumentalisierung entwickelt: Die Funktionäre und Experten versuchen »die Basis« zu mobilisieren – und »die Basis« beauftragt die Funktionäre und macht sie für die Ergebnisse verantwortlich.
Das kann man vielleicht noch eine Weile fortsetzen, nur das gesellschaftliche Kräfteverhältnis ist so nicht zu ändern. Hier steht noch eine politische Krise aus.
Sebastian Gerhardt, Jahrgang 1968, studierte Mathematik und Philosophie. Im Herbst 1989 und auch danach war er bei der »Initiative für eine Vereinigte Linke in der DDR« (Böhlener Plattform) engagiert. Mitarbeit bei der Zeitschrift »lunapark21«, in der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte und der Bildungsgemeinschaft SALZ.
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