Harte Hand und Datenwut
Protestierer erhalten nach G20 heftige Strafen - Behörden stehen derweil wegen Informationspolitik in der Kritik
Seit sieben Wochen saß der 24-jährige Pole Stanislaw W. in Untersuchungshaft. Polizisten hatten Murmeln, Feuerwerk, eine Taucherbrille und Reizgas bei ihm entdeckt - rund anderthalb Stunden vor der »Welcome to Hell«-Demo, die in Hamburg während der G20-Proteste Anfang Juli von Hundertschaften und Wasserwerfern zerschlagen wurde. Nachdem das Amtsgericht der Hansestadt im Nachgang kürzlich erstmals einen vermeintlichen Flaschenwerfer zu einer außerordentlich hohen Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt hatte, kam am Mittwoch der polnische Kunststudent als zweiter Verdächtiger an die Reihe. Angeklagt war er wegen Verstoßes gegen das Waffen, Sprengstoff- und Versammlungsgesetz.
Der nicht vorbestrafte Stanislaw W. beteuerte, dass er die Demonstration gar nicht besuchen wollte. Das Gericht glaubte ihm nicht - und verurteilte ihn zu einem halben Jahr Gefängnis auf Bewährung. »Mein Mandant hat niemandem etwas zuleide getan«, kommentierte sein Verteidiger empört die erneut relativ hohe Strafe. Er wolle in Berufung gehen. Der Richter erklärte seine Entscheidung mit einem »generalpräventiven Aspekt« - also einer Abschreckungsfunktion. 31 weitere Menschen sitzen im Zusammenhang mit den G20-Protesten noch in Untersuchungshaft.
Abseits der Prozesse zeigte sich am Mittwoch ein weiterer fragwürdiger Umgang der Behörden im Zusammenhang mit dem umstrittenen Gipfeltreffen: Recherchen der ARD zufolge basierte die Entscheidung des Bundespresseamtes, 32 Journalisten die bereits erteilten Akkreditierungen zu entziehen, in vielen Fällen auf Einträgen in Polizeidateien, die entweder offensichtlich falsch oder nach Einschätzung von Juristen eindeutig rechtswidrig waren. Auch zwei nd-Kollegen waren von der Maßnahme betroffen.
Der Umfang der zugrunde liegenden Datensätze ist dabei offenbar größer als gedacht: Das Bundesinnenministerium teilte dem ARD-Hauptstadtstudio auf Anfrage mit, allein in der Fallgruppe »Innere Sicherheit« seien aktuell 109 625 Menschen und 1 153 351 Datensätze zu einzelnen politisch motivierten Straftaten gespeichert. In der Falldatei »Rauschgift« seien sogar rund 700 000 Menschen gespeichert, meistens wegen Cannabis-Bagatelldelikten, wegen denen es nur sehr selten einen Strafbefehl oder eine Verurteilung gegeben habe. In den Dateien zu »politisch motivierter Kriminalität« finden sich laut ARD-Recherchen 15 Jahre alte Datensätze zu Bagatelldelikten, bei denen es nicht einmal zu einer Anklage kam. Doch auch Datensätze über vermeintlich schwerwiegende Straftaten sind dem Bericht zufolge falsch.
So sei in der Akte des Berliner Fotografen Björn Kietzmann die angebliche »Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion« aus dem Jahr 2011 gespeichert, obwohl Kietzmann damals nachweislich zu Unrecht verdächtigt worden sei. »Auf diese Art wird die Pressefreiheit mit Füßen getreten«, sagte der Fotograf gegenüber »nd«. »Für alle Ewigkeit werden hier falsche Daten in den Akten gespeichert und daraus werden dann noch Empfehlungen für Polizeibehörden erstellt.« Aus Sicht von Kiezmann ist dies rechtswidrig, er will juristisch dagegen vorgehen.
Auch der vom Akkreditierungsentzug betroffene Stuttgarter Fotograf Alfred Denzinger berichtete gegenüber »nd« von »sechs Seiten gespeicherter Daten«, obwohl er lediglich einmal einen Strafbefehl von 500 Euro aufgrund einer angeblichen Beleidigung erhalten habe. »Von Halbwahrheiten über belanglose Bespitzelungen bis hin zu absoluten Unwahrheiten ist alles vertreten.«
Das Bundesinnenministerium räumte für mindestens vier Fälle eine fehlerhafte Entscheidung ein. In diesen Fällen hätten die Akkreditierungen nicht entzogen werden dürfen, sagte ein Sprecher des Ministeriums am Mittwoch in Berlin. Es verdichteten sich zudem Hinweise, dass noch ein weiterer Fall dazukomme. Das Ministerium bestätigte zudem die ARD-Recherche und kündigte eine umfassende Überprüfung aller Datensätze an. Bundesjustizminister Heiko Maas forderte am Mittwoch eine sorgfältige Aufklärung: »Unnötig gespeicherte Daten schaffen nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.«
Die Organisation Reporter ohne Grenzen kritisierte die Datennutzung des Bundeskriminalamtes. »Es wird immer deutlicher, dass die Sicherheitsbehörden einige Journalisten aufgrund grob fehlerhafter und teils eindeutig rechtswidrig gespeicherter Einträge in ihren Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt und als vermeintliche Gewalttäter stigmatisiert haben«, sagte Vorstandssprecher Michael Rediske. Das BKA sammele offensichtlich in großem Stil und weitgehend nach Gutdünken Daten, deren Relevanz für die öffentliche Sicherheit in vielen Fällen mehr als fragwürdig sei.
Ulla Jelpke, die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, forderte die Behörden zu einem anderen Umgang mit Informationsbeständen auf. »Das BKA muss seinen Datenbestand schleunigst auf das rechtlich Zulässige reduzieren.« Erschreckend sei die Gleichgültigkeit, mit der das BKA auf Warnrufe der Bundesdatenschutzbeauftragten reagiert. Mit Agenturen
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