Gut verschleyert
Warum wird ein alter Nazi und Kriegsverbrecher noch heute geehrt, fragt Siegfried Schmidtke
Vor 40 Jahren, am 5. September 1977, wurde Hanns Martin Schleyer, Präsident der Arbeitgeber, von der Roten Armee Fraktion in Köln entführt und verschleppt. Sein Fahrer und drei begleitende Polizisten wurden bei dem Überfall erschossen. Die damalige Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) verweigerte den Austausch gegen elf inhaftierte RAF-Mitglieder, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. 43 Tage später, am 18. Oktober 1977 wurde Schleyer von seinen Entführern umgebracht. Seine Leiche lag im Kofferraum eines in Mülhausen im Elsass abgestellten Audi.
Am 25. Oktober 1977 fand der Trauerstaatsakt in Stuttgart für den Ermordeten statt. »Neben oder anstelle eines Staatsbegräbnisses kann zur Ehrung eines Verstorbenen ein Staatsakt angeordnet werden«, heißt es in einer Anordnung über Staatsbegräbnisse und Staatsakte vom 2. Juni 1966. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich um das deutsche Volk verdient gemacht haben, könnte auf Veranlassung des Bundespräsidenten eine solche Ehrung zuteil werden.
Noch mal langsam: »um das deutsche Volk verdient gemacht«? Hanns Martin Schleyer tat sich als Arbeitgeberpräsident und Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG, so formuliert es whoswho.de, »als Gegner der innerbetrieblichen Mitbestimmung und anderer gewerkschaftlicher Rechte hervor«. Bedeutet das, »um das deutsche Volk verdient gemacht«?
Die gesamte Politprominenz der Bundesrepublik war damals in Stuttgart, um Schleyer Worte der Ehrung und Trauer nachzurufen. Für die ermordeten Fahrer und Polizeibeamten gab es keinen Staatsakt. Kurze Zeit später gründeten die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine Hanns Martin Schleyer-Stiftung. Sie vergibt jährlich einen gleichnamigen Preis für »hervorragende Verdienste um die Festigung und Förderung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens«. Im vergangenen Jahr hieß der Preisträger Wolfgang Schäuble, zu seinen Vorgängern gehörten Ernst Nolte, der den Historikerstreit auslöste, und Elisabeth Noelle-Neumann, die für Goebbels Meinungsforschung betrieben hatte.
1983 nannte die Stadt Stuttgart eine neu eröffnete Mehrzweckhalle - die größte in Baden-Württemberg - Hanns-Martin-Schleyer-Halle. Mehrere Städte in der Bundesrepublik ehren das RAF-Opfer mit Straßennamen: In Rastatt gibt es die Dr.-Schleyer-Straße, in Wörth am Rhein, in Böblingen und Willich in Nordrhein-Westfalen jeweils eine Hanns-Martin-Schleyer-Straße, in Konstanz wiederum ein Martin-Schleyer-Straße und, und, und ... Den Vogel abgeschossen beim Namenswirrwarr hat wohl die Stadt Kaarst bei Düsseldorf. Dort gab es zunächst eine Hans-Martin-Schleyer-Straße. Denn die Verantwortlichen hatten korrekt recherchiert, dass der zu Ehrende in der Geburtsurkunde nur mit einem »n« ausgewiesen wird. Aus welchen Gründen auch immer, Schleyer hat zeitlebens diese urkundliche Festlegung verschleiert und seinen ersten Vornamen mit einem weiteren »n« versehen, was dann quasi offiziell wurde. Die Stadt Kaarst hat sich dann, um Regressforderungen verärgerter Bürger und Händler vorzubeugen, die finanzielle Belastungen etwa durch Druck neuer Visitenkarten befürchteten, für beide Schreibweisen entschieden; fünf Jahre lang waren zwei Schilder übereinander angebracht. Schilda lässt grüßen.
Wünschenswerter wäre gewesen, hätte die Kaarster Stadtverwaltung in anderer Hinsicht gründlicher recherchiert. Dann hätte sie mehr über die verschleierte Vergangenheit des Geehrten erfahren können. Denn, so der britische Historiker Alex J. Kay, »heute wird an Hanns Martin Schleyer in erster Linie als Opfer der Roten Armee Fraktion erinnert. Dabei gerät seine Eigenschaft als nationalsozialistischer Täter weitgehend in Vergessenheit.« Der 1979 in Kingston geborene Holocaustforscher und Experte für den deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion hat sich intensiv mit der rasanten Nazikarriere Schleyers befasst (nachzulesen u. a. in dem jüngst vom Wolfgang Proske herausgegebenen Band »NS-Belastete aus Südbaden«, Kugelberg Verlag, 431 S., br., 19,99 €).
1915 in Offenburg/Baden geboren, tritt Schleyer 1931 in die Hitlerjugend ein. 1933 wird er Mitglied der SS, 1937 dann der NSDAP. In Heidelberg studiert er Jura und engagiert sich in führender Funktion im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund. 1938 bezeichnet er sich selbst als »alten Kämpfer und SS-Führer«. An der Universität Innsbruck promoviert er zum Dr. jur. und ist maßgeblich daran beteiligt, dass Lehrkörper und Studentenschaft als »judenfrei« nach Berlin gemeldet werden können. Nach der Eheschließung mit Waltrude Ketterer, einer überzeugten Nationalsozialistin mit ebenso überzeugtem Nazivater, beginnt seine Hochzeit als »SS-Offizier und Kriegsverbrecher« (Kay) im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren - eine NS-Umschreibung für das okkupierte Tschechien. Der Saarbrücker Historiker Erich Später beschreibt Schleyer als führendes Mitglied der »deutschen Vernichtungselite in Prag«. Der spätere Manager ist dort enger Mitarbeiter des berüchtigten Stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich, einem gnadenlosen Vollstrecker der »Endlösung der Judenfrage«, den Thomas Mann in einer Rundfunkansprache der britischen BBC als »Bluthund«, »Mordknecht« und »Henker« charakterisierte. Schleyer ist unter Heydrich für die »Arisierung« der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Zwangsarbeitern zuständig.
Nach Kriegsende gelang Schleyer die Flucht in die Westzonen des besetzten Deutschland. Während seiner knapp dreijährigen Internierung in Baden verschleierte er seinen Offiziersrang als SS-Untersturmführer und gab - glatt gelogen - den Unteroffiziersrang eines SS-Oberscharführers an. Mit der so erwirkten Einstufung als »Mitläufer« standen ihm alle Türen in der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland offen.
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