Lebensthema Friedliche Revolution
Der DDR-Bürgerrechtler Tom Sello soll für Berlin SED-Unrecht aufarbeiten. Von Jérôme Lombard
Das war schon eine Überraschung für mich«, sagt Tom Sello und nippt an seinem Glas mit Sprudelwasser. Dass Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) ausgerechnet ihn für das Amt des neuen »Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur« vorschlagen würde, wie das Amt offiziell heißt, damit hatte er nicht gerechnet. Als der Regierende Mitte Juli mit der Idee an ihn herangetreten war, habe er aber keinen Moment gezögert, meint Sello.
»Das Amt ist für mich eine große Ehre und zugleich eine Herausforderung, die ich gerne annehmen möchte«, sagt der 59-Jährige, der in einem gut besuchten Café direkt unterhalb des Fernsehturms sitzt. Die obersten beiden Knöpfe seines hellblauen Hemdes stehen offen. Er wirkt entspannt. Erst vor kurzem ist Sello von einem mehrtägigen Ostseeurlaub nach Berlin zurückgekehrt.
Wenn das Berliner Abgeordnetenhaus dem Personalvorschlag des Regierenden Bürgermeisters im September zustimmt - was aller Wahrscheinlichkeit nach der Fall sein dürfte - tritt der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Sello ab Dezember die Nachfolge des seit 1991 amtierenden und jetzt in den Ruhestand gehenden Stasi-Landesbeauftragten Martin Gutzeit an. Freilich mit einem deutlich erweiterten Tätigkeitsbereich: Der neue Landesbeauftragte soll sich nicht nur um die Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR kümmern, sondern generell um alle Angelegenheiten, die sich mit der historischen und politischen Aufarbeitung des SED-Regimes beschäftigen. Also vor allem: Beratung von Menschen, die in der DDR staatliche Repression erlitten haben und um Rehabilitierung und Entschädigung kämpfen.
So sieht es der neue Gesetzesentwurf vor, den die rot-rot-grüne Koalition zusammen mit den Oppositionsfraktionen von CDU und FDP im Juli ins Abgeordnetenhaus eingebracht hat. Das Plenum des Abgeordnetenhauses wird in Zukunft ebenfalls eine Bühne des neuen Aufarbeitungsbeauftragten sein. Anders als sein Vorgänger wird Sello dort ein Rederecht erhalten.
»Die DDR ist zwar Geschichte, aber die Zeitzeugen müssen bis heute mit den Schrecken der Vergangenheit leben«, sagt Sello. Wenn man ihn über sein zukünftiges Amt reden hört, wird schnell klar: Ganz so überraschend kam die Personalentscheidung für Sello als neuen Landesbeauftragten nicht.
Der 1957 in Meißen geborene Sello beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem SED-Regime der DDR. Seit 1993 arbeitet er bei der Robert-Havemann-Gesellschaft, die 1990 vom Neuen Forum für politische Bildungsarbeit gegründet wurde. Für die Gesellschaft betreut er das Archiv zu Opposition und Widerstand in der DDR, das sich derzeit noch in Prenzlauer Berg befindet. Momentan ist Sello mit dem Umzug des Archivs in die ehemalige Stasizentrale in der Normannenstraße in Lichtenberg beschäftigt. Dort betreut er zudem die 2016 eröffnete Freiluftausstellung »Friedliche Revolution 1989/90« als Projektkoordinator. Für seine Arbeit wurde er 2009 mit dem Verdienstorden des Landes Berlin und 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Dass für Sello das Unrecht, das viele Menschen in der DDR erlebt haben, auch nach der Wende eines der entscheidenden Themen geblieben ist, liegt an seiner persönlicher Geschichte. Nach einer Ausbildung zum Baufacharbeiter und der Ableistung des Grundwehrdienstes in der NVA arbeitete Sello zehn Jahre lang als Maurer in Ost-Berlin. Ende der 1970er Jahre begann er sich in der Oppositionsbewegung zu engagieren. »Als junger Mensch habe ich mich wiederholt in Situationen wiedergefunden, in denen ich zu mir sagte: Das ist nicht gerecht, das darfst du nicht akzeptieren«, sagt Sello.
An eine dieser Situationen erinnert er sich ganz besonders gut. Als Jugendlicher in der siebten Klasse wollten ihn NVA-Offiziere aufgrund mäßiger Schulleistungen beschwatzen, sich freiwillig zum Armeedienst zu melden. »Zu zweit saßen sie mir in einem Raum gegenüber und haben auf mich eingeredet. Es ist nicht richtig, wenn zwei erwachsene Männer solch einen Druck auf einen jungen Menschen ausüben.« Als Sello das sagt, bebt seine Stimme. Der ansonsten eher zurückhaltende Mann fängt an zu gestikulieren. Man kann förmlich spüren, wie diese traumatische Erfahrung an seinem inneren Auge vorbei zieht.
Ab 1987 wirkte Sello in der Umweltbibliothek der Zionskirchengemeinde in Berlin-Mitte mit. Die im Keller des Kirchenhauses untergebrachte Bibliothek war einer der wichtigsten Treffpunkte von DDR-Bürgerrechtlern. Sello war auch am Druck und an der Verteilung der Samisdat-Zeitschrift »Umweltblätter« beteiligt. Während der Friedlichen Revolution gehörte Sello einer Gruppierung an, die im Mai 1989 die Fälschung der DDR-Kommunalwahlen kritisierte. Im Oktober 1989 beteiligte er sich an der Mahnwache an der Gethsemanekirche.
»Ich erwarte von allen Parteien einen respektvollen Umgang mit den Opfern der SED-Diktatur. Heute und in Zukunft«, sagt Sello energisch. Er hofft, dass ihn das Abgeordnetenhaus schon bald offiziell zum Landesbeauftragten ernennt. Denn er freut sich schon auf seine neue Arbeit.
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