Der intellektuell verkümmerte Rest

Alexander Gauland und der Abstieg der deutschen Konservativen

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gab einmal einen klugen Konservativen, der schrieb solche Sätze: »Historische Erinnerung ist kein nachträglich gesäubertes und nach heutigen Maßstäben politisch korrekt zugerichtetes Gedenken à la Walhalla, sondern es soll an Menschen mit ihren Irrtümern und Fehlern erinnern. Wir erinnern uns ihrer nicht deshalb, weil sie nie gefehlt hätten, sondern weil das Ganze, die historische Bilanz erinnerungswürdig ist. Und da bleiben eben Reformation und Bibelübersetzung bei Martin Luther, das ›Kommunistische Manifest‹ und ›Das Kapital‹ bei Karl Marx, die Reichseinigung bei Bismarck und Rapallo bei Rathenau. Sie lassen uns Irrtümer wie Bismarcks Sozialistengesetz oder Luthers Bauernbeschimpfung zwar nicht übersehen, aber eben doch vergeben. Schließlich dürfte es auch schwerfallen, deutsche Geschichte ohne Luther und Marx, ohne Bismarck und Rathenau zu erinnern.«

Besagtes Zitat stammt aus einer Kolumne, die im Berliner »Tagesspiegel« am 1. Mai 2011 erschien. Anlass für den Text war die Debatte über den Historiker Heinrich von Treitschke (1834 - 1896), der in Heidelberg lehrte und lebte. Nach Treitschke war in der Stadt am Neckar eine Straße benannt. 2011 nun beschloss der zuständige Gemeinderat die Umbenennung dieser Straße. Der Grund ist wohlbekannt: Treitschke war Antisemit und mit seinem Urteil »Die Juden sind unser Unglück« einer der lautesten Vertreter seiner Gedankenzunft im wilhelminischen Deutschland. Heute heißt der Weg im Universitätsviertel Goldschmidtstraße, benannt nach dem Ehepaar Leontine und Victor Goldschmidt - zwei zum Christentum konvertierte Juden aus Heidelberg.

Jener kluge Konservative also kritisierte diese Umbenennung in durchaus bedenkenswerten Worten. Er wolle »keinesfalls eine Lanze für diesen deutschnationalen Geschichtsmystagogen brechen, dessen deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert schon immer höchst angreifbar war«, schrieb er über Treitschke. »Bloß, wo kämen wir hin, wenn wir die historische Erinnerung aller entsorgen wollten, die vor Auschwitz ein paar unpassende Bemerkungen über Juden oder das Jüdischsein gemacht haben. Karl-Marx-Straßen dürfte es dann keine mehr geben, so wenig wie Martin-Luther-Straßen. Auch Bismarck und Thomas Mann hätten aus unseren Stadtbildern zu verschwinden. Und selbst der ermordete Jude und republikanische Reichsaußenminister Walther Rathenau müsste sofort entsorgt werden. Sein ›Höre Israel‹ war selbst dem gewohnheitsmäßigen bürgerlichen Salonantisemitismus des Kaiserreiches zu viel.«

Man teilte als Linker damals die Meinung des Autors des zitierten Textes in seinen Kolumnen meist nicht, man konnte aber innerlich darüber mit ihm im demokratischen Diskurs streiten. Dass das heute nicht mehr möglich ist, würde der Betreffende vermutlich damit erklären, dass die Politisch-Korrekten mittlerweile die Oberhand im Land gewonnen hätten, dass überall das Regiment der politischen Korrektheit herrsche und das Konservative aus der Öffentlichkeit verdrängt worden sei. Als Begründung dient ihm unter anderem die Tilgung von Wörtern wie »Neger« aus Kinderbüchern, die in der Tat mit einem Furor vollzogen wurde, der in seiner Unerbittlichkeit jeglichen, auch noch so vorsichtig und leise vorgetragenen Einwand mit Gebrüll niederdrückte; hier kann man diesem einstigen Konservativen ein gewisses gefühlsmäßiges Verständnis entgegenbringen.

Heute empfiehlt dieser der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), auf einer Wahlkampfrede seiner Partei folgendes: Die gebürtige Hamburgerin, deren Eltern aus der Türkei stammen und die seit 1989 die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, solle doch einmal ins Eichsfeld kommen und ihre Behauptung wiederholen, es gebe keine spezifisch deutsche Kultur. Unter dem Jubel seiner Anhänger setzte er hinzu: »Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können.«

Es war dies nicht die erste verbale Abkehr des heutigen AfD-Spitzenpolitikers Alexander Gauland in den zurückliegenden Jahren. Am intellektuellen Niedergang dieses einstigen CDU-Politikers, der 40 Jahre dieser Partei angehörte, für sie in Ministerien und Staatskanzleien arbeitete, der Zeitungen herausgab, als Kolumnist eben für den liberalen »Tagesspiegel« schrieb und Bücher verfasste, die Titel trugen wie »Anleitung zum Konservativsein«, zeigt sich, wie rasch der Konservativismus in Deutschland aus der Mitte verschwand und zum randständigen Phänomen wurde. Wie einst die Kommunisten und ihr Denken von der SPD Ende der 1950er Jahre mit dem Godesberger Programm aus der Sozialdemokratie getilgt wurden, haben jetzt auch die Konservativen keine politische Heimat mehr. Die AfD, an die sich der um Gauland herum intellektuell verkümmerte Rest klammert, ist ein rechtspopulistischer Marktschreierverein, ein geistiger Mülleimer, in den sich gerade der Konservativismus selbst entsorgt.

Konservative sind in Deutschland heute eine politisch heimatlose Spezies. Jene, die wie Gauland in der AfD Asyl fanden, machen dafür Angela Merkel und die Liberalisierung der Union verantwortlich. Die von ihnen bemühte Lesart lautet wie folgt: Die Union habe durch ihre Orientierung an den urbanen liberalen Milieus, etwa durch die Einführung der Ehe für Homosexuelle oder der unter Rot-Grün eingeführten doppelten Staatsbürgerschaft, das Konservative in der Partei getilgt.

Doch das ist nur der vordergründige Schein der Wahrheit. Konservative (und da sind die deutschen in Europa nicht allein) leiden unter dem Wertewandel in der Gesellschaft, unter der von ihnen wirtschaftlich mit losgetretenen Globalisierung, die eben nicht nur die Ware Arbeitskraft beliebig weltweit austauschbar gemacht hat, sondern auch die Lebensstile und Kulturen einander weltweit angleicht. Flüchtlinge aus Afrika kommen nicht in zerlumpten Kleidern und ohne die Insignien westlicher Konsumkultur nach Europa, sondern in Adidas-Schuhen und Nike-Shirts und haben ihre Wanderung per GPS über ihr Smartphone gesteuert.

Was die Lage für die deutschen Konservativen aber besonders dramatisch macht, hat ihnen dieser Tage Thomas Schmid erläutert. Der ehemalige Herausgeber der »Welt«-Gruppe schreibt in seinem Blog auf welt.de: »Der deutsche Konservatismus hatte sich zum größten Teil dem Nationalsozialismus mehr oder minder willig hingegeben. Diesen Makel ist er nie wieder losgeworden - auch weil er die Auseinandersetzung mit seiner Selbstkorrumpierung zumeist beharrlich verweigert hat. So ist es nicht verwunderlich, dass der bisher letzte Versuch in Deutschland, eine konservative Partei zu schaffen, ein so widerwärtiges Gebilde wie die AfD Gaulands hervorgebracht hat.« So klar und deutlich hat noch nie zuvor jemand im Zentralorgan des deutschen Konservativismus die Wahrheit auf den Punkt gebracht.

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