Warten auf die Bildungspolitik
In Göttingen lädt die SPD in eine Gaststätte ein, um gemeinsam den TV-Auftritt von Schulz und Merkel anzuschauen
Den ersten zaghaften Beifall für Martin Schulz gibt es um 20.25 Uhr. »Warum hat Horst Seehofer den Orban dann zu sich eingeladen?«, hat der SPD-Vorsitzende die Bundeskanzlerin gefragt. Eine rhetorische Frage, ein kleiner Kniff, auf den Angela Merkel die Antwort schuldig bleibt.
Zu Beginn des Fernsehduells zwischen ihr und Martin Schulz am Sonntagabend geht es um das Thema Migration. Beide Diskutanten haben das Verhalten von Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban kritisiert, der Flüchtlingen die Pässe abgenommen, sie eingesperrt und Stacheldrahtzäune an den Landesgrenzen errichtet hat. Merkels Kritik sei wohlfeil und nicht Ernst zu nehmen, wenn ihr Spezi Horst Seehofer, CSU-Chef und Ministerpräsident in Bayern, Ungarn gleichzeitig den Hof mache, darauf zielte Schulz mit seiner Frage ab.
Die Göttinger SPD hatte zum »Public Viewing« des Duells in die Gaststätte »Paulaner« eingeladen, einige Dutzend Mitglieder und Sympathisanten sind gekommen. Die Universitätsstadt ist eine, nun ja, Hochburg der Sozialdemokraten. Immerhin 33 Prozent der Stimmen haben sie bei der letzten Bundestagswahl im Wahlkreis Göttingen geholt, sogar 41 Prozent der Wähler gaben ihre Erststimme dem Direktkandidaten Thomas Oppermann. Im Kommunalparlament bestimmt die SPD gemeinsam mit den Grünen seit vielen Jahren die Geschicke der Stadt.
Einige Gäste glauben - oder geben es zumindest vor -, dass die SPD bis zur Bundestagswahl noch die Kurve kriegen kann, wenn Schulz in der TV-Debatte eine gute Figur macht. »Wenn er gut abschneidet, dann gibt es noch eine Chance«, sagt ein junger Mann. Er ist erst seit einigen Monaten Parteimitglied, mehr über sich verrät er nicht, auch seinen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen.
»Schulz muss Merkel in die Defensive drängen«, lautet sein Ratschlag. »Er muss ihre Inhaltsleere entlarven, darf sich aber nicht zu Hochmütigkeit hinreißen lassen.«
Am Nachbartisch sitzt Amina Yousaf. Sie ist seit sieben Jahren in der SPD, Mitarbeiterin der örtlichen Landtagsabgeordneten und »überzeugt, dass Schulz heute gut abschneidet«. Sie sagt das, was auch die Parteiführung sagt: Die Wahl sei noch nicht verloren. Viele Wähler seien noch unentschlossen, sie gebe nichts auf Umfragen, »entscheidend ist der Wahltag«.
Ein älterer Genosse - »ich bin seit 49 Jahren in der Partei« - ist da wohl etwas realistischer. Er hofft, dass die SPD wenigstens ein bisschen aus dem Umfrageloch klettern kann. Dafür müsse Schulz aber einen gute Auftritt hinlegen. »Mit dem Überholen der CDU wird es aber wohl nichts mehr.« Die Frau neben ihm hingegen erwartet von dem TV-Auftritt überhaupt keine Auswirkungen auf die Wahl. Sie will der SPD aber ohnehin nicht ihre Stimme geben, sondern schwankt noch zwischen Grünen und Linken.
Der Vorsitzende des SPD-Stadtverbandes, Christoph Lehmann, erwartet von Schulz eine »klare sozialdemokratische Positionierung«: Steuergerechtigkeit, Internationalismus, Europa - »und Europa heißt auch, klare Kante gegen Erdogan«. Auf Kaffeesatzleserei lässt sich Lehmann nicht ein. »Es geht doch nicht nur um die Frage Wahlsieg«, sagt er. »Es geht auch darum, die AfD kleinzuhalten.« Dann dreht der Wirt den Ton lauter, das Rededuell beginnt.
Schulz müht sich ab, Merkel lächelt die Attacken weg, richtig Stimmung will in der Kneipe nicht aufkommen. Allenfalls eine »drei bis vier« als Note gibt der Alt-Genosse seinem Vorsitzenden zur Halbzeit des Duells. Einige Zuschauer zischeln empört über den Co-Moderator Claus Strunz, ein »rechter Hetzer« sei das, andere tippen auf ihren Smartphones herum, kommunizieren mit den Delegierten des Landesparteitages, der am selben Tag in Hannover stattgefunden und das Programm für die Landtagswahl im Oktober verabschiedet hat. Durch den fliegenden Wechsel einer Grünen-Abgeordneten zur CDU hat die rot-grüne Koalition ihre Ein-Stimmen-Mehrheit verloren. Am 15. Oktober gibt es Neuwahlen, aber auch in Niedersachsen stehen die Umfragen für die SPD schlecht.
Erst am Schluss können sich die Zuschauer im »Paulaner« noch an einigen Treffern von Schulz erfreuen. »Vor der letzten Bundestagswahl war es die Maut, die bestimmt nicht kommt. Mal sehen, ob die Rente mit 70 dieses Mal auch nicht kommt«, ätzt der SPD-Chef. Merkel hat zuvor versichert, ein Renteneintrittsalter mit 70 Jahren werde es unter ihrer Regierung nicht geben. Auch Schulz’ Kritik am Ex-Kanzler und künftigen Rosneft-Aufsichtsrat Gerhard Schröder kommt gut an: Es gehe bei der Wahl schließlich um die Zukunft der Bundesrepublik und nicht um die Zukunft Schröders. Für Amina Yousaf reicht das schon, sie bewertet den Auftritt von Schulz als »richtig stark«. Schade nur, meint sie, dass die Bildungspolitik nur gestreift und der soziale Wohnungsbau gar nicht zur Sprache gekommen sei. Auf diese Fragen, sagt Yousaf, »hätte Schulz mit Sicherheit die richtigen Antworten gehabt.«
Auch der SPD-Chef von Göttingen ist hernach zufrieden. »Schulz war besser, er war klarer«, sagt Lehmann, während die ersten Umfragergebnisse über die Leinwand flimmern. »Ich habe mich mit vielen Dingen, die er gesagt hat, wohl gefühlt.«
Die Bundespartei hatte sich da schon längst ihre Meinung gebildet. Sie reklamierte bereits den Sieg für Schulz, als der Schlagabtausch noch gar nicht begonnen hatte. »TV-Duell: Merkel verliert klar gegen Martin Schulz - spd.de«, hieß es in einer Google-Anzeige, die eigentlich erst ab Mitternacht freigeschaltet werden sollte. Durch eine Panne bei der beauftragten Agentur erschien der Text aber schon am späten Nachmittag im Netz. Zu der eigentlich geplanten Zeit war sie aufgrund Tausender empörter und spöttischer Kommentare dann aber nicht mehr zu finden.
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