Hätte, hätte, Menschenkette

Von der Großen Koalition zum großen Aufbruch der Nation. Ein Kommentar zum Ausgang der Bundestagswahl

  • Gerd Albrecht
  • Lesedauer: 4 Min.

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion, ich gehe jetzt ins Krankenhaus, wo ich die nächsten 14 Tage nicht schreiben oder diktieren kann. Deshalb schicke ich euch jetzt schon meinen Kommentar zum Ausgang der Bundestagswahl. Druckt ihn bloß nicht aus Versehen schon vorher ab! Mit solidarischen Gruß, Euer GA

Und wieder grüßt das Murmeltier. So lange ist es noch gar nicht her, dass wir uns nach der US-Präsidentschaftswahl verwundert die Augen rieben. In allen seriösen Umfragen lag Clinton vorn, und dann kam es doch anders. Einen Schwarzen wählen die Amerikanerinnen und Amerikaner als Oberhaupt, aber doch keine Frau! Und nun hat es unsere liebe Frau erwischt - Mutti Merkel, die Herrin von Deutsch-Europa. Niemand hatte die geradezu verheerende Niederlage vorausgesagt, die die Christenunion, außerhalb von Seehofers süddeutschem Freistaat, hinnehmen musste. Dabei waren doch im Auftrag der Fernsehsender 1000 repräsentative Menschen aus der Bevölkerung befragt worden, wie sie wählen würden! Da haben wohl nicht alle ganz aufrichtig geantwortet. Da auch die Sozis (was allerdings zu befürchten war) noch weiter abgerutscht sind, ist die AfD jetzt zweitstärkste Partei geworden. Aus dem Stand, wie die Kommentare gebetsmühlenartig wiederholen.

Es gereicht Frau Merkel zur Ehre, dass sie nicht für die »Koalition der nationalen Einheit« zur Verfügung steht, die nun aus der neu formierten CSU/CDU unter Seehofer und den Nationalreaktionären gebildet wird. Merkel hatte ja im TV-Duell mit Schulz öffentlich gelobt, dass sie nicht mit der AfD koalieren werde. Nachdem sie jetzt, noch in der Wahlnacht, zurückgetreten ist, werden es andere aus ihrer Partei tun. Bis zuletzt hatte die Ex-Kanzlerin versucht, in den Gremien für eine Fortsetzung der Großen Koalition zu werben. Sie hat die Stimmung in ihrer Partei am Ende offenbar nicht mehr richtig eingeschätzt. Ihre Coolness im Wahlkampf entpuppt sich im Nachhinein als mangelnde Sensibilität für die Kränkung der völkischen Eigenliebe in weiten Kreisen der Anhänger ihrer Partei. Oder als Unwillen, ihr nachzugeben. Seehofer hat die Gunst der Stunde jedenfalls genutzt und die Weichen für eine innen- und europapolitische Wende nach ungarischem Vorbild gestellt.

Wer hätte ahnen können, dass es so kommen würde? Niemand. Außer vielleicht ein paar kritischen Sozialwissenschaftlern. Wolfgang Pohrt hat die Faschismusanfälligkeit der wiedervereinigten Deutschen im Jahre 1990 getestet. Dafür entwickelte er eine Skala, die »M-Skala« genannt wurde: »M« stand für den »deutschen Michel«. Pohrt hat bei deutschen Probanden damals mehr Irrationalität und latent faschistoide Gesinnung gefunden als Adorno und seine Kollegen, als sie 45 Jahre zuvor im fernen Kalifornien mit der »F-Skala« arbeiteten. Seinerzeit wurde festgestellt, dass Personen mit einem »autoritätsgebundenen Charakter« faschismusanfällig sind, weil sie sich mit Macht schlechthin identifizieren.

Heute liegen die Dinge etwas anders. Merkel wurde abgewählt, weil aufbegehrende deutsche Wutbürger ihre völkischen Affekte gegen die oberste Macht-Repräsentantin einer - noch leidlich humanen - kapitalistischen Rationalität in Stellung bringen. Einer Zweckrationalität, für die Staatsgrenzen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Zweifel nicht mehr die ultima ratio sind. Dass es so gekommen ist, erinnert durchaus an das Ressentiment, das die Trump-Anhänger gegen das »Establishment« in Washington kultivieren. Der rechte Umsturz kommt aus der Mitte des Volkes.

Aber wir dürfen nicht vergessen, was Oliver Decker, der Leiter der Leipziger »Mitte-Studien«, vor gerade mal einem Jahr gesagt hat: »In der alten Bundesrepublik wollten die Parteien Volksparteien sein. Der deutsche Volksbegriff ist etwas ganz anderes als etwa das Englische ›people‹. Er kennzeichnet nicht einen Souverän, der sich gegenüber einer Herrschaft etabliert, sondern soll vielmehr Ein- und Ausschluss aus einer Gemeinschaft wegen behaupteter rassisch-ethnischer Zugehörigkeit begründen. So wie die Pogrome gegen Flüchtlinge immer mit ›Überfremdung‹ oder ›Bedrohung des deutschen Volkes‹ begründet werden.« In den letzten Jahren wollten sich die beiden großen Parteien in eine (mehr imaginäre als reale) »Mitte« begeben. Aber diese Mitte steht rechts.

Nun ist also manifest geworden, dass vielen Deutschen das nationale Hemd näher ist als der Rock einer globalisierten kapitalistischen Ökonomie. Sie werden aber lernen müssen, dass sie dieses Hemd nur solange tragen dürfen, wie der Rock hält. Und was hätte man vorher gegen dieses Wahl-Fiasko unternehmen können? Hätte, hätte, Menschenkette ... Mit mehr Stimmen für die Linke und - seufz - für die SPD hätte es vielleicht doch noch für Rot-Rosa-Grün im Bund gereicht, mit der Linken an der Spitze und den Sozis als zweiter Kraft. Sicher hatte Hermann Gremliza nicht Unrecht, als er vor ein paar Wochen in der »Konkret« schrieb, wir müssten endlich kapieren, dass die SPD nicht das kleinere Übel ist, sondern die üblere Kleine. Ich gestehe: Ich hätte in den kommenden Jahren trotzdem lieber noch mal versucht, es mit ihr auszuhalten.

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