Zeitarbeit erreicht Eine-Million-Marke

Die Zeitarbeitsbranche wächst rasant - die Belegschaften der bundesweit 11.000 Firmen haben sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt

  • Roland Bunzenthal
  • Lesedauer: 4 Min.

Horst Klar arbeitet seit sechs Monaten bei einem westfälischen Chemieunternehmen. Angestellt ist der 48-Jährige jedoch bei einer kleinen Zeitarbeitsfirma, spezialisiert auf Arbeitskräfte für die Chemie. Begonnen hatte Klar mit einem Stundenlohn von 9,23 Euro - genau 39 Cent über dem gesetzlichen Mindestlohn. Er möchte gern bei seinem Entleihbetrieb bleiben und dort fest angestellt werden. »Doch das ist noch ungewiss«, meint Klar. Als angelernter Arbeiter steht er auf der neunstufigen Tarifgruppenleiter der Zeitarbeit ganz unten. Am oberen Ende befinden sich verleihtaugliche »Akademiker mit langer Berufserfahrung« - Wert: 20,50 Euro pro Stunde.

Inzwischen hat sich Klars Finanzlage etwas aufgehellt. Der Grund sind die tariflichen Branchenzulagen, die die Kluft zwischen den Stammbelegschaften und den Zeitarbeitern schließen sollen - beginnend bei 15 Prozent Plus nach den ersten sechs Wochen bis zu einer Aufstockersumme von 65 Prozent Plus nach neun Monaten im Betrieb. Das relativ hohe Lohnniveau der Chemie - zuletzt im Schnitt mindestens 13,50 Euro pro Stunde - dürfte nur zum Teil die Zeitarbeiter erreichen, die länger als neun Monate beschäftigt sind, denn etwa die Hälfte sind nur zwischen drei und sechs Monaten in einem Betrieb tätig.

Die Zeitarbeit ist der Jobmotor Nummer eins in Deutschland. In diesen Tagen übersteigt die Belegschaft der etwa 11.000 Zeitarbeitsfirmen die Marke von einer Million Menschen, das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. In Zukunft wird der Fachkräftemangel auch dazu führen, dass verstärkt qualifiziertes Personal angeworben wird, vermuten Experten der Gewerkschaften.

Vergangenes Jahr hat die Bundesregierung regulativ eingegriffen, ausgelöst durch eine neue Richtlinie der EU. So schreibt die Novelle des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vor, dass für alle Betriebsangehörige, egal ob Interne oder Externe, spätestens nach neun Monaten im Betrieb gleiche Löhne gezahlt werden müssen. Rückwirkend zum ersten April trat dieses Gesetz in Kraft. Wie die Betriebe das umsetzen, ist noch relativ unsicher. Die Gewerkschaften haben durch Tarifvereinbarungen reagiert.

Das hat zur Folge, dass nun Dreiviertel aller Leiharbeiter eines Betriebes kurz vor Erreichen dieser Neun-Monats-Grenze einfach gegen neue Leute ausgewechselt werden könnten. Kritiker der Leiharbeit wollen die einzelnen Einsätze auf maximal drei Monate begrenzen, um zu verhindern, dass reguläre Stellen in Entleihjobs umgewandelt werden. Die Gewerkschaften IG Metall und IG BCE verfolgen hingegen die umgekehrte Strategie. Sie versuchen, die Leiharbeiter möglichst lange im gleichen Betrieb zu halten, damit sie irgendwann übernommen werden. Nach 24 Monaten haben sie laut Tarifvertrag einen Anspruch auf Festeinstellung.

Die Alternative wäre, zurück in die Zeitarbeitsfirma zu gehen und bei einem neuen Einsatz wieder bei Null anzufangen. Statt nach neun Monaten den großen Lohnsprung zu machen, sieht der Tarifvertrag in der Zeitarbeitsbranche eine stufenweise Anhebung der Branchenzulage vor. So muss der entleihende Betrieb den Leiharbeitern den gleichen Lohn wie der Stammbelegschaft zahlen - allerdings erst nach neun Monaten. Der Gesamteinsatz bei einem Betrieb darf die Dauer von 18 Monaten nicht übersteigen und schließlich dürfen die Leiharbeiter nicht mehr als Streikbrecher eingesetzt werden.

Nach wie vor wird die Leiharbeit zu den atypischen und prekären Tätigkeiten gezählt - gemeinsam mit Minijobs, befristeten Verträgen,Teilzeit und Scheinselbständigkeit. »Wir sind typische Dienstleister«, betont dagegen ein Sprecher des Zeitarbeitsverbandes BAP. Atypisch sei allenfalls »der geringe Anteil an Minijobbern oder befristeten Verträgen in unserem Geschäft«.

Gemeinsam mit den Gewerkschaften gehen Grüne, LINKE und SPD davon aus, dass das neue Gesetz der Großen Koalition der Nachbesserung bedarf. So fordern die linken Parteien und der DGB, in der Zeitarbeit gleichen Lohn für gleiche Arbeit bereits vom ersten Einsatztag an zu zahlen - um zu verhindern, dass reguläre Jobs verdrängt oder umgewandelt werden. Darüber hinaus wollen SPD und Linkspartei die Mitbestimmung des Betriebsrates beim Einsatz von Leihkräften ausweiten.

Es bleibt der Vorwurf, die Verleiher würden ihren Arbeitskräften »Hungerlöhne« zahlen. In der Tat verdient ein entliehener Arbeitnehmer im Schnitt nur 1842 Euro monatlich, das sind knapp 60 Prozent eines Durchschnittslohnes. Doch hat dies auch strukturelle Gründe - bei der Zeitarbeit sind relativ viele jüngere und ungelernte Arbeitnehmer anzutreffen, die den unteren Lohngruppen angehören. Diese reichen im Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche in neun Stufen von 9,23 Euro für Hilfskräfte bis 20,34 Euro für Akademiker mit langer Berufserfahrung. Seit fünf Jahren bemühen sich die Gewerkschaften per Tarifvertrag, das Lohnniveau in der Zeitarbeit auf ein Normalmaß anzuheben. Das ist nicht ganz einfach - sind die Leiharbeiter doch in ganz unterschiedlich entlohnten Branchen tätig.

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