- Kultur
- Bundestagswahl 2017
Wir sind ein blödes Volk
Der Wahlerfolg der AfD macht kenntlich, wie Deutschland tickt
Das Problem dieser Bundesrepublik begann nicht, als die Rechtsradikalen eigene Parteien gründeten oder andere unterwanderten oder übernahmen. Das ist schließlich keine allzu ungewöhnliche Freizeitbeschäftigung in einem Land, in dem jeder Dunkelhäutige und jede und jeder, die oder der falsch gekleidet ist, sich daran gewöhnt hat, beim Besuch eines »Volksfests« Todesangst zu empfinden. Jetzt, nach dem Wahlerfolg der AfD, wieder die überaus beliebte Frage »Wie konnte das geschehen?« zu stellen, ist ungefähr so intelligent, wie danach zu fragen, warum ein 16-Tonnen-Gewicht von oben nach unten fällt, wenn man es loslässt. »Die AfD wurde genau für das gewählt, was sie auch ist, eine reaktionäre, rassistische, antifeministische, teils antisemitische Partei«, heißt es im jüdischen Onlinemagazin haGalil.
Das Problem begann, als die Rechtsradikalen als Stimmungs- und Krawallmacher in Talkshows und dem diesen angeschlossenen Medienzirkus eingeladen, bereitwillig willkommen geheißen und hofiert wurden. Als Talkshow-Moderatorinnen und -Moderatoren, die ja bekanntermaßen ohnehin nicht gerade die analytischsten und kritischsten Tiefdenker des Landes sind, der offensiv vorgetragenen Hetze, den Tatsachenverdrehungen und dem Gepolter der von ihnen Eingeladenen kaum etwas entgegensetzen konnten oder wollten. Als ZDF, ARD oder RTL ihre »Social-Media-Teams«, die offenbar jeweils aus zwei grinsenden Kleiderständern und einem Praktikanten bestanden, die »interessantesten Wortmeldungen unserer Zuschauer« vortragen ließen, bei welchen es sich zumeist um diffus Empfundenes, Stammtischparolen und anderes Gestammel halbalphabetisierter Wutbürger handelte.
Das Problem war des Weiteren evident, als von nahezu allen dauerhaft geleugnet wurde, dass es sich um Rechtsradikale handelt bei Leuten, die die Verbrechen der Wehrmacht glorifizierten und offen davon redeten, Menschen an Staatsgrenzen erschießen und ihre politischen Gegner »entsorgen« zu wollen. Als man so tat, als sei es damit getan, Neonazis in »Nationalkonservative« umzutaufen. Als über Jahre hinweg erfolgreich das Wahnbild eines drohenden »Linksextremismus« herbeifantasiert wurde, während im selben Atemzug die Anhängerinnen und Anhänger der Rechtsradikalen inflationär so lange als »besorgte Bürger« und »Protestwähler« bezeichnet wurden, bis dieser Schmarren von allen nachgeplappert wurde. Als sich nach Landtagswahlen selbst Politiker der Linkspartei nicht schämten, wie der Musterschüler neben dem Klassenlehrer direkt neben einem AfD-Funktionär zu stehen und sich artig dessen völkische Tiraden anzuhören.
Und das Problem setzt sich auch nach dieser Wahl fort, was man unter anderem daran erkennen kann, dass die Katrin Göring-Eckardts und Manuela Schwesigs dieses Landes sich gar nicht genug dabei beeilen können, diesen Gestalten vor den Fernsehkameras die Hand zu schütteln, was sie anscheinend ohne erkennbaren Ekel tun, und ihnen zu ihrem Wahlsieg zu gratulieren.
Seit vorgestern Abend weiß auch der, der’s bislang nicht wahrhaben wollte, wie viel das permanente Gerede von der Zivilgesellschaft und dem modernen Deutschland wert ist. Das über Jahrzehnte hinweg von Politikern brav aufgesagte Mantra, dass Deutschland »aus seiner Vergangenheit gelernt« und diese »vorbildlich aufgearbeitet« habe, hat sich als das gezeigt, was es immer war: als eine auswendig gelernte Floskel, derer die Etablierten sich um so zwanghafter bedienten, je mehr sie politisch dem Gepöbel und den Vernichtungsfantasien der sogenannten Wutbürger nachgaben.
In den Jahren zwischen 1992 und 1995 lebte ich im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Seinerzeit lief ich täglich an einem Graffito vorbei, das jemand an eine Wand gemalt hatte. Es lautete: »Wir sind ein blödes Volk.« Eines Tages hatte jemand Folgendes daruntergeschrieben: »Wir auch.« Da wusste ich: Jetzt ist die deutsche Einheit vollendet.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.