Große, weite Welt!

Warum einem das Nobelpreiskomitee von Jahr zu Jahr sympathischer werden kann

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Oktober ist eine noble Zeit. Nobelpreisvergabe für Forscher und Poeten. Vereinfacht könnte man sagen: Die Wissenschaftler sagen uns, dass es Wasser auf dem Mond gibt, die Dichter erzählen uns den Mond, der sich im Wasser spiegelt.

Wer war der Preisträger im vorigen Jahr? Ach ja: Bob Dylan. »Glaub nicht dem Bild der Wolken, jetzt, in dieser Stunde, / Der Wind malt schon am Widerruf für morgen.« Kein Halt für nichts. Auch über die Wirkung von Literatur entscheidet irgendwann eine Kraft, die von keinem Preis mehr genährt wird, von keinem Höchstlob. »Mein Glück überstrahlt jetzt alles. Aber schon bald sehe ich mich wieder auf dem endlosen Feld meiner Zweifel.« Sagte Dichter Paul Heyse 1910 - da hatte er gerade, als erster deutscher Schriftsteller, den Nobelpreis für Literatur erhalten. Ein Satz über den beinahe fliegenden Wechsel von Verehrung und Vergessen.

Der Erfolg von heute ist Gestöber. Gewicht kommt von anderen Impulsen. Nicht vom Wind, der den Staub aufwirbelt. Nicht vom Medienwind also, der jedes Jahr, vor der Vergabe des höchstdotierten Literaturpreises der Welt, die Buchmacher zu besonderer Geschäftigkeit antreibt. Um sie regelmäßig - in diesem Jahr vorbei an bevorzugt Gehandelten wie Oz und Murakami, Adonis und Atwood - ins Leere wetten zu lassen.

Kazuo Ishiguro! Wem der Name unbekannt ist, der hat das Erlebnis einer schönen Beschämung: große Welt, weite Welt, entdeckenswerte Welt! Das schwedische Nobelpreiskomitee kann einem wirklich von Jahr zu Jahr sympathischer werden. Nie in jüngster Zeit erfolgte die Ehrung nach dem bloßen Prinzip des dichterischen Erfolges. Wer sollte den festlegen: die Auflage? Intellektuelle Tiefe? Irgendeine Kulturkreis-Dominanz? Wer besäße das gültige Maß? Stockholm hat einen schönen Ehrgeiz der Verstörung, der frechen Torpedierung von Erwartungen.

Dazu gehörte immer auch der Aufmerksamkeitsschub für politische Wurzeln und Ströme im Werk - Mo Yan, Elfriede Jelinek, Harold Pinter. Dass ein schwedischer Juror unmittelbar vor der Wahl Pinters 2005 das Gremium im Zorn verließ, deutete auf einen jederzeit möglichen Streit hin, zwischen Feingeistern und Befürwortern einer Kunst, die rücksichtslos jenen Schrei ausstößt, der nötig scheint in dieser Welt, die nicht nur weit und groß, sondern auch dämonisch ist. Man denke an Herta Müller 2009 - mit ihr traf das Komitee ebenfalls eine streitfördernde Entscheidung. Es war der Lohn für Erzählungen aus dem Gelände kollektiv organisierten Wahns, aus den Kellergewölben vereister Utopien. Vergleichbar mit dem Preis für Imre Kertész.

Die Nobelpreisvergabe als Sprachrohr akuter Bürgerrechtstugenden? Vereinseitigung einer literarischen Instanz? Stockholm bleibt jedes Mal ungerührt und geht souverän mit Gegensätzen um. Als Beweis jener charakterstarken Unberechenbarkeit bekam 2011 der Schwede Tomas Tranströmer den Preis, für eine radikal verschlossene Poesie aus purem Klang - ein Ton, der nichts weiß von Abnutzungen durch Realismus und unmittelbaren Wirklichkeitsbezug.

Seit 1901 gibt es den Preis. Jeweils ein Jahr zuvor werden mehrere Tausend Personen und Organisationen gebeten, Kandidaten vorzuschlagen. Im Februar des betreffenden Jahres ist »Einsendeschluss«. Das Komitee trifft eine Vorauswahl. Im Frühsommer findet dann eine weitere Verdichtung des kandidierenden Dichterkreises statt. Nach Weitergabe des Siegervorschlages an die Akademie müssen deren Mitglieder abstimmen, bei den Wissenschaften sind das 420 schwedische und 175 ausländische, bei der Akademie für den Literaturpreis zur Zeit 16. Die jeweiligen Diskussionen im kleinen Kreis bleiben fünfzig Jahre unter Verschluss.

Der Nobelpreis ist kein Publikumspreis. Seine Vergabe beruht auf einer hoffentlich bleibenden Lust am Risiko. Denn die Welt der Leser hat viele kleine Gesellschaften, und jede hat recht. Wer schreibt und liest, bildet mit am kontinenteweiten Kosmos der wunderbar Abirrenden vom Konsens. Mit Literatur reagieren wir auf unsere ungeheure Lage, auf die wir meistens nicht unmittelbar antworten können. Es gibt eine harte wie tröstende Lehre, die aus den Bücherregalen geholt werden will. Die Lehre sagt: Was wir zu Lebzeiten tun, ändert nichts an unserer Sterblichkeit. Das ist die Wahrheit. Aber: Unsere Sterblichkeit entschuldigt nicht alles, was uns zu Lebzeiten zugefügt wird. Das ist der Antrieb, der - um einen Romantitel von Kazuo Ishiguro zu variieren - von jedem Tage übrig bleiben möge.

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