Gut ist das noch lange nicht
Nach wie vor fehlen verbindliche Kriterien zur Bewertung der pädagogischen Qualität in der frühkindlichen Bildung. Von Jürgen Amendt
Die Qualität pädagogischer Arbeit im frühkindlichen Bereich ist schwer messbar - wie soll man denn messen, welchen Effekt eine Vorlesestunde auf Kinder hat, was in den Köpfen von Dreijährigen passiert, die einen ganzen Tag lang im Matsch spielen, die mit Fingern Wände bemalen oder einfach »nur« mit der Erzieherin kuscheln. Um der Vergleichbarkeit willen und weil die Bildungsbürokratie Zahlen braucht, gibt es aber die Statistik. Die erfasst beispielsweise das Verhältnis zwischen der Zahl der pädagogischen Fachkräfte einer Einrichtung und der Zahl der betreuten Kinder.
Dieses statistische Verhältnis sei jedoch oftmals wenig aussagekräftig, sagt Manuela Saupe. Die Erzieherin leitet eine Einrichtung in einem Berliner Innenstadtbezirk; 30 Erzieherinnen kümmern sich hier um 210 Kinder im Alter von zwei Monaten bis sechs Jahren. Macht im Schnitt sieben Kinder pro Fachkraft, wobei der Betreuungsschlüssel bei den unter Dreijährigen deutlich besser ist als bei den älteren Kindern.
Bei den Ein- bis Zweijährigen liegt Saupes Einrichtung im Berliner Durchschnitt. In der Hauptstadt ist im statistischen Schnitt eine Fachkraft für 4,5 Ein- bis Zweijährige verantwortlich. Das wiederum ist laut Ländermonitor 2015 der Bertelsmann-Stiftung im Bundesvergleich gutes Mittelmaß.
Gut ist das dennoch nicht. »Die Eltern lesen morgens in der Zeitung, dass sich die Betreuungsrelation für die unter Dreijährigen in Berlin verbessert hat, bringen ihr Kind dann zu uns und wundern sich, dass sie in der zehnköpfigen Krippe nur eine Erzieherin antreffen«, kritisiert Saupe.
Die personelle Unterbesetzung lasse sich aber leicht erklären, erläutert sie diesen Widerspruch. Der Betreuungsschlüssel berücksichtige nur teilweise Zeiten für pädagogische Vor- und Nacharbeit und nicht den Ausfall durch Krankheit und Urlaubszeiten. Saupes Träger, der insgesamt 56 Einrichtungen im Stadtgebiet betreibt, versucht, den längerfristigen Ausfall von pädagogischem Fachpersonal - z.B. bei Krankheit - durch Mitarbeiterinnen von Zeitarbeitsfirmen zu kompensieren. »Doch darunter leidet oftmals die pädagogische Qualität der Arbeit«, sagt die Kita-Leiterin.
600 Kilometer weiter südlich sieht es ähnlich aus. Christa S. (Name geändert) steht einer Kita im Großraum München mit 100 Kindern und 12 pädagogischen Fachkräften vor. Rein statistisch gesehen kommt somit eine Erzieherin auf rund acht Kinder. Damit entspricht die Einrichtung dem bayerischen Durchschnitt für die Gruppe der über Dreijährigen und dem von der Europäischen Union geforderten Mindeststandard. »Wenn allerdings mehrere Kolleginnen krank sind, was nicht selten vorkommt, wird jeder Dienstplan zur Makulatur und dann muss oftmals ich selbst in die Bresche springen«, beschreibt Christa S. das Problem.
Christa S. ist sich sicher: Die Strukturprobleme werden in den kommenden Jahren nicht kleiner, sondern größer werden, und dies gelte vor allem für die Altersgruppe der Ein- bis Zweijährigen. Ihre Kita, die sich in Trägerschaft der Gemeinde befindet, gibt es seit 16 Jahren und Christa S. hat die Erfahrung gemacht, dass der Betreuungsbedarf in dieser Zeit selbst im konservativen Bayern zugenommen hat. »Immer mehr Kinder, die mit drei Jahren zu uns kommen, haben schon vorher eine Krippe besucht oder wurden von einer Tagesmutter betreut.« Doch dieser Bedarf kann im Land nicht gedeckt werden. Laut Statistischem Bundesamt fehlten in Bayern 2016 für 14,9 Prozent der unter dreijährigen Kinder Betreuungsplätze; bundesweit lag die Quote bei 13,3 Prozent.
Abhilfe könnte ein Qualitätsgesetz schaffen, das die Kitas - also Kommunen und freie Träger - dazu verpflichtet, Mindeststandards in der frühkindlichen Betreuung und Bildung einzuhalten. Der Handlungsbedarf ist offensichtlich: Der Betreuungsschlüssel schwankt bei den unter Dreijährigen (Krippe) von 1 zu 3 bis 1 zu 6,4, im Kita-Bereich variiert er zwischen 1 zu 7 und 1 zu 14. Der Ende 2016 von Bund und Ländern gemeinsam vorgestellte Zwischenbericht für ein Kita-Qualitätsgesetz spricht sich dafür aus, dass in der Krippe von einer Erzieherin maximal vier Kinder betreut werden sollen; bei den Drei- bis Sechsjährigen sollen es höchstens neun Kinder sein. Die GEW fordert einen Schlüssel von 1 zu 3 für den Krippen- und 1 zu 7 für den Kita-Bereich.
Einen ersten Anlauf für ein Qualitätsgesetz gab es 2012. Die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) hatte das noch von ihrer Vorgängerin Kristina Schröder (CDU) initiierte »10-Punkte-Programm für ein bedarfsgerechtes Angebot in der Kindertagesbetreuung« aufgegriffen und den Ländern vorgelegt. Einer dieser Punkte versprach ein Qualitätsgesetz für den Kita-Bereich. Zu den bundesweit gültigen Standards sollten u.a. eine Neuberechnung der Fachkraft-Kind- Relation gehören sowie Regelungen für eine verbindliche Fort- und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte. Aufgrund des Widerstands der Länder, die höhere Kosten befürchteten, legte das Schwesig-Ministerium das Vorhaben 2014 aber auf Eis. Danach verhandelten die Länderminister über eine gemeinsame Regelung. Ohne großen Erfolg: Im Mai dieses Jahres - also mitten im beginnenden Bundestagswahlkamp - einigten sie sich zwar über ein Eckpunktepapier, ohne jedoch verbindliche Regelungen zu treffen, wie Björn Köhler vom GEW-Bundesvorstand kritisiert. »Die Länder müssen alle Werkzeuge nutzen; es kann nicht sein, dass ein Land erklären kann, ihm reiche die Leitungsfreistellung vollkommen aus und die anderen Werkzeuge der Qualitätssicherung wie den Betreuungsschlüssel oder Fort- und Weiterbildung ignorieren darf.«
Ob die neue Bundesregierung Bewegung in die Sache bringen wird, ist ungewiss. Für ein Bundes-Qualitätsgesetz sind unter den möglichen Koalitionsparteien nur die Grünen, und auch die Länder sperren sich. Köhlers Vorgänger im GEW-Vorstand Norbert Hocke fürchtet zudem, dass die Finanzpolitiker in der Union in den Koalitionsverhandlungen die Qualitätssicherung in der frühkindlichen Bildung gegen die populäre Forderung nach gebührenfreien Kitas ausspielen werden. »Die Union könnte den anderen Parteien das Messer auf die Brust setzen und sagen: Entweder Gebührenfreiheit oder Qualität«. Der Einnahmeausfall für die Kommunen durch den Wegfall der Kita-Gebühren sei schon jetzt enorm, erläutert der Kita-Experte das Problem. Allein in Nordrhein-Westfalen habe die unter Rot-Grün beschlossene Gebührenfreiheit zu einer Finanzierungslücke von 900 Millionen Euro jährlich geführt.
Auf der Ausgabenseite könnte es durch eine Umsetzung des Qualitätsentwicklungsgesetzes für die Kita-Träger ebenfalls eng werden, ergänzt Björn Köhler. Durch die Freistellung aller Kita-Leitungen von der pädagogischen Arbeit könnten auf die Kommunen bundesweit Mehrausgaben von jährlich 1,3 Milliarden Euro zukommen - Kosten, die sie unter Umständen an anderer Stelle einsparen werden.
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