Tote Seelen?

Im Kino: »Happy End« von Michael Haneke

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Nichts liegt Michael Haneke ferner als ein glückliches Ende. Er weiß, wie es mit uns endet. Darum sind seine Filme auch Exerzitien der Unausweichlichkeit. Lauter Versuchsanordnungen, die auf sachliche Art und Weise den Einbruch der Tragödie in die bürgerliche Existenz untersuchen.

Seit »Bennys Video« und »Funny Games« (mit Ulrich Mühe und Susanne Lothar) zieht sich diese Linie durch sein Werk. Sein Erfolgsfilm »Das weiße Band« von 2009 war da schon der Gipfelpunkt an Opulenz. Mit »Liebe« von 2012, dem Protokoll der Ehe zweier alternder Menschen, deren Verbundenheit darin gipfelt, dass der Mann seiner schwerkranken Frau Sterbehilfe leistet, kehrte er wieder zurück zum Prinzip Versuchsanordnung. Deshalb wohl nennt man ihn auch einen Extremisten, der Fragen von Leben und Tod unter dem Aspekt der sinnlosen Vernichtung zuspitzt, dem Dämonischen in uns nachgeht. Dämonisch ist, was sich weder Vernunft und Nützlichkeit noch Gesetz und Moral unterordnet.

Der Bürger kennt die Dämonen nur noch in Gestalt von Perversionen. Das Perverse: eine Form der Selbstentfremdung. Die überbordende Dämonie eines Ganzen brachte es zuletzt im Zeitalter des Barock zur bizarren Blüte. In der Perversion jedoch erscheint das Sexuelle als eine bloße Teilfunktion. Darum ging es in »Die Klavierspielerin« von 2001 (mit Isabelle Huppert). So sind Hanekes Filme filmische Essays über die Hilflosigkeit des Einzelnen im Medienzeitalter, das Identitäten immer mehr in Teil-Identitäten aufsplittert und fiktionalisiert.

Das hat Folgen nicht nur für den Inhalt von Hanekes Filmen, sondern auch für ihre Form, die nach dem Prinzip der Aufsplitterung gebaut sind und vom Zuschauer verlangen, dass er selbst das Gesehene sinnvoll wieder zusammensetzt. So auch in »Happy End«, der in dieser Hinsicht ein konsequenter Haneke-Film ist. Er macht es dem Zuschauer vorsätzlich schwer. Ist das nun ein Vorzug - oder eher eine Schwäche? Je nachdem, was man erwartet. Kommentiert wird nichts, erklärt ebenso wenig. Der Zuschauer soll gar nicht in eine wie auch immer geartete Stimmung geraten, er muss hier vielmehr hochkonzentriert den abrupt wechselnden Sequenzen zu folgen versuchen. Trainiert wird der kalte Blick. Das kann in einer manipulativen Medienwelt nicht schaden, aber reicht das für einen Film mit künstlerischem Anspruch?

Man hat diesen Film bereits eine »Momentaufnahme«, ein »Standbild« genannt, aber damit ist wenig über Gelingen und Misslingen gesagt. Wir sehen eine Folge von Sequenzen mit Menschen, die alle in einem bestimmten, uns noch verborgenen Zusammenhang stehen. Die meisten von ihnen gehören zur Familie des greisen Bauunternehmers Georges Laurent. Lauter tote Seelen? Der alte Laurent wird gespielt vom Jean-Louis Trintignant, inzwischen 86 Jahre alt, der bereits in Hanekes »Liebe« so eindrucksvoll agierte. Schon seinetwegen lohnt es, diesen Film zu sehen, denn er lässt sich nicht von Regie-Konzepten kleinhalten. Mit jedem seiner sprechenden Blicke ist er groß.

Dieser Laurent kann nicht sterben, obwohl er es bereits versucht hat - aber das hat ihn bloß noch mehr lädiert. Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl und vergisst vieles, was man im Alltag braucht. Der Sohn (Mathieu Kassovitz) wandert auf Abwegen. Seine erste Frau hat sich soeben das Leben genommen, die gemeinsame zwölfjährige Tochter Eve kehrt zum Vater zurück. Dieser ist längst wieder verheiratet, führt aber via Internet ein erotisches Doppelleben, was die Tochter schnell bemerkt: »Nimmst du mich mit, wenn du fortgehst?«, fragt sie den verblüfft alles Abstreitenden.

Seine Schwester Anne (Isabelle Huppert) dirigiert die Geschicke der Familie. Sie alle erscheinen nur in Schlaglichtern, wir erfahren nicht mehr über sie als das, was wir gerade sehen. Das ist konsequent gedacht und auch umgesetzt, aber Konsequenz allein schafft noch keinen Gesamteindruck. Und der stellt sich nicht so recht ein. Stattdessen viele - auch starke - Szenen, wie die von Georges Laurent mit seiner Enkelin Eve, die soeben versucht hatte, sich mit den Resten der Tablettenmischung umzubringen, mit der sich auch ihre Mutter vergiftet hatte. Warum?, will der Großvater wissen.

Nun beginnt das heikle Gespräch unter verhinderten Selbstmördern mit einem überraschenden Geständnis. Es ist ein gespensterhaftes Geheimgespräch. Denn Eve beichtet ihrem Großvater, dass sie im Ferienlager, in das sie sich abgeschoben fühlte, einem anderen Mädchen die Beruhigungstabletten, die sie verordnet bekommen hatte, ins Essen mischte - und dieses dann kühl dabei beobachtete, wie es von Tag zu Tag »ruhiger« wurde und schließlich kollabierte. Eine großartige Szene, in der man gewichtige Geheimnisse in überaus unbewegter Weise teilt.

Nur Trintignants Augen lassen erahnen, was alles hinter den lapidar gesprochenen Worten an Schmerz liegt (Marie, die Tochter des Schauspielers, Frau eines drogensüchtigen Rockmusikers, wurde von diesem 2003 im Streit erschlagen). Am Ende fordert Laurent von Eve etwas überaus Unkindliches: Sie soll seinen Rollstuhl ins Wasser schieben. Sie tut es, aber nicht, ohne ihr Handy dabei gezückt zu haben - da denken wir dann sofort an »Bennys Video«. Eine beklemmende Szenerie, existenzielles Kino, wie es gegenwärtig wohl nur Michael Haneke oder Lars von Trier zu schaffen imstande sind.

Nein, dieser Regisseur erspart seinen Zuschauern normalerweise nichts - aber dass der Selbstmörder Laurent dann doch dazu verurteilt ist, noch eine Weile weiterzuleben, bereitet eine stille Freude.

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