Superheld

  • Volker Surmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Jeder, der regelmäßig per U-Bahn unterwegs ist, kennt ihn. Er ist ein Berliner Untergrundoriginal. Wie die Zetteloma in der U7, der Alte Fritz in der U6. Er ist der Stinker der U8. Er ist obdachlos, das macht es nicht leichter, über ihn zu schreiben.

Er sieht aus, wie Obdachlose in Gotham City inszeniert werden: Zottelige, lange Haare, ein eingefallenes Gesicht in den Farben rot, braun und fleckig, ein spackiger Bart. Seine Kleidung, viele Schichten übereinander, kann man farblich nicht mehr zuordnen. Seine Jeans waren vielleicht mal blau, bevor sie mit Dreck gestärkt wurden. Er schlurft schwankend in völlig zerschlissenen Schuhen, aus deren Rissen gelbrote Zehennägel rausragen. Er schnorrt einen nuschelnd an, und hält einem eine schwarzfleckige Hand mit aufgesprungenen, krummen Fingern und nikotingelben Nägeln entgegen. Dabei schwankt er bedrohlich. Er ist ein Bild des Elends und rührt zu Mitleid - bis man ihn gerochen hat. Er ist der bemitleidenswerteste unter allen Obdachlosen, denkt man. Der ärmste und abgehängteste von allen, denkt man. Aber verdammt: Er stinkt!

Der Gestank hängt an diesem Mann wie das Cape an Superman. Und tatsächlich besitzt er auch eine superheldentypische Superkraft: Er kann stinken wie kein anderer. Exorbitant. Was gab’s nicht alles für Superhelden! Supersicht, Superhirn, mit Spinnenfäden an Hochhäusern entlanghangeln, auf Eiswellen surfen. Berlin hat den Olfaktorman! Wie ein Komet zieht er einen Schweif aus giftigen Gasen hinter sich her. Wer ihn bloß sieht, ergreift die Flucht, das schafft nicht mal Spiderman!

Hat er die U-Bahn verlassen, klebt noch minutenlang sein Geruch im Gang und krallt sich an den Haltestangen fest. Der Gestank ist langlebig und bekommt dadurch etwas Haptisches, eine physikalische Greifbarkeit. Steigt der Stinker der U8 am Rosentaler Platz ein, dann schneiden die U-Bahntüren einen Teil des Gestanks ab. Der abgeschnittene Gestank steht dann etwas unschlüssig am Bahnsteig rum, wabert ein paar Meter auf und ab und wartet dann, bis der Stinker eine halbe Stunde später aus dem Zug in Gegenrichtung wieder aussteigt und dockt wieder am Mutterschiff an. Was für ein Kunststück!

Seit ich all das entdeckt habe, mischt sich pure Bewunderung in meinen Ekel. Denn ich bin sicher: Auch hinter dieser Superheldeneigenschaft steckt eine Geschichte, ein tragisches Schicksal. Super- und Spiderman haben sich ihre Superheldeneigenschaften auch nicht selbst ausgesucht, und wie wir wissen, leiden sie bisweilen darunter. Der Stinker der U8 kann das Stinken sicher nicht mehr ablegen, es ist seine Rüstung vor der Welt. Vielleicht braucht er sie zum Überleben. Und, Hand aufs Herz: Selbst in Stoßzeiten mal einen U-Bahn-Wagen ganz für sich allein zu haben, wer hatte die Sehnsucht noch nicht?

Wenn der Stinker der U8 schon sonst nichts hat, sei ihm wenigstens dieser Luxus gegönnt. Ziehen wir einfach einen Wagen weiter und denken über die Frage nach, ob Berlin nicht schon mehr Gotham City ist, als es ihm guttut.

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