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Offene Wunden in gelbem Aquarell
Die Graphic Novel »Ich habe Wale gesehen - eine Freundschaft im Baskenland« wurde von Javier de Isusi ins Deutsche übersetzt
Das Baskenland der 80er Jahre. Der Vater des Priesterschülers Antón wurde von der baskischen Widerstandsbewegung Euskadi Ta Askatasuna (ETA) ermordet. Von Journalisten unter Druck gesetzt, erteilt der damals 19-Jährige bei der Beerdigung eine vorschnelle Absolution: »Ich verzeihe ihnen.« Noch 25 Jahre später plagen Antón Alpträume wegen dieser Aussage. Am Tag der Beerdigung seines Vaters hat er sich selbst seine Wut versagt. Er hat sie nie zugelassen, nicht damals und nicht heute.
An diesem verregneten Tag hat Antón auch seinen besten Freund Josu das letzte Mal gesehen. Josu selbst beging später Morde für die ETA. Hatte er etwas mit dem Tod von Antóns Vater zu tun? »Vor mir sehe ich Josus finsteres Gesicht im Regen, den Blick hat er gesenkt«, erinnert sich Antón. »Über viele Jahre quälte mich der Gedanke, er könnte etwas mit dem Attentat zu tun gehabt haben.«
Der Untertitel von Javier de Isusis Graphic Novel lautet »Eine Freundschaft im Baskenland«. Freundschaften mit Zweifeln, wie die von Antón gegenüber Josu waren während den Hochzeiten des bewaffneten Kampfes der ETA keine Seltenheit. Trotz aller Vertrautheit zwischen Menschen, die vielleicht sogar zusammen aufgewachsen sind, bestand auch unter Freunden immer die Möglichkeit des Verrats. Nach einem tödlichen Attentat blieb die Ungewissheit darüber, wer mitverantwortlich ist für den Mord. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus dem vertrauten Umfeld daran beteiligt war, war hoch. Schweigen und Misstrauen konnten jede Freundschaft überschatten.
Als der 1972 in Bilbao geborene Isusi 2014 seine Graphic Novel veröffentlichte, hatte die ETA den bewaffneten Kampf erst seit drei Jahren offiziell beendet. Und trotzdem ist der Unabhängigkeitskampf des Baskenlandes nicht nur Teil der Geschichte, sondern auch der Gegenwart. Unzählige Familiengeschichten sind durch diesen Kampf geprägt. Aktuell befinden sich noch immer mehr als als 350 politische Gefangene aus dem Baskenland in Haft - und zwar größtenteils in spanischen und französischen Gefängnissen. Dort spielt auch ein Teil von Isusis Novelle. Denn Antóns Freund Josu sitzt, wie viele (ehemalige) »Etarra«, eine lange Haftstrafe ab. Im Gefängnis trifft er den Franzosen Emmanuel. Er war Söldner bei der GAL, einer von 1983 bis 1987 von der spanischen Regierung eingesetzte paramilitärischen Gruppe, die die Bekämpfung der ETA zum Ziel hatte. Diese als antiterroristische Befreiungsgruppe bezeichnete Einheit, ging selbst mit einem Höchstmaß an Gewalt vor - und tötete nachweislich auch unbeteiligte Basken.
Noch bevor Josu über die Vergangenheit seines Mitinsassen Bescheid weiß, fühlt er sich durch dessen Erzählungen über sein von Gewalt geprägtes Leben mit seinem eigentlichen Feind verbunden. Emmanuel bereut seine Taten für die Todesschwadrohnen inzwischen. »Ich bin ein Profi geworden«, sagt Emmanuel. »Ein Profi der Gewalt«. Auch Josu zweifelt nach Jahren hinter Gittern an seiner Vergangenheit bei der ETA. »Wie würdest du jemanden bezeichnen, der sich auf das spezialisiert hat, was wir gemacht haben?«, fragt Josu einen anderen Häftling. »Bei uns dreht sich immer alles um den Aufbau unserer Nation, aber ich habe den Eindruck, wir haben nur zerstört.«
Mit Emmanuel diskutiert Josu moralische Fragen über die Zugehörigkeit bei ETA und GAL: »Wir beide haben Menschen getötet und keiner von uns ist stolz darauf, okay. Aber wir sind nicht gleich. Du hast es für Geld getan. Ich für ein Ideal«, versucht Josu sich zu verteidigen. »Du hattest immerhin edle Absichten und deshalb bist du ein besserer Mensch als ich?«, fragt Emmanuel zurück. Eine Antwort darauf liefert der Autor nicht.
Als Antón schließlich Josus inzwischen volljährigen Sohn trifft und mit ihm über die Freundschaft zu seinem Vater spricht, zeigt sich der Kern der Erzählung besonders deutlich: Es geht um innere Zerrissenheit, um Schuld und Vergebung. Isusi schreibt nicht direkt von Terrorismus, Repression und Gewalt, sondern über die Auswirkungen all dessen auf Angehörige, Täter und Opfer - ein Großteil der baskischen Bevölkerung ist zumindest eines davon. Und so spiegelt die Novelle aus drei völlig verschiedenen Perspektiven auf zurückhaltende Weise die offenen Wunden der baskischen Gesellschaft wieder.
Der Autor schafft es mit minimalistischen Zeichnungen, die Emotionen und inneren Konflikte der Protagonisten auf den Leser zu übertragen. Mit aquarellierten Bildern, in schwarz, weiß und gelb gehalten, fängt er die gedrückte Stimmung im Baskenland der 80er Jahre ein, von Tagen, an denen der Regen nicht mehr aufzuhören schien, wortwörtlich wie im übertragenen Sinne. Auffallend auch die Liebe zum Detail: Tavernen, Häfen, Gefängnishöfe, in denen Pelota gespielt wird - jeder Schauplatz in Isusis Buch ist unverkennbar baskisch.
»Ich habe Wale gesehen« ist nicht nur ein künstlerisch ansprechendes und berührendes Werk, es gewährt auch einen glaubhaften Einblick in das Innere der baskischen Gesellschaft, damals wie heute. Neben der Erzählung selbst, die auf einer wahren Begebenheit basiert, bietet die Chronologie im Anhang den nötigen historischen Kontext. Für jeden, der anfangen will, das Baskenland zu verstehen, ist diese Graphic Novel mehr als empfehlenswert. Ohne Drama und doch mit viel Gefühl kann man in Isusis Geschichte eintauchen - und Wale sehen.
Javier de Isusi: Ich habe Wale gesehen - Eine Freundschaft im Baskenland, Edition Moderne, 176 S., 29 €.
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