Die Bestie in uns

Im Kino: »The Square« von Ruben Östlund

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie schnell es doch geht, ein Denkmal vom Sockel zu stürzen! Der Kran hebt das Reiterstandbild aus Bronze nur kurz in die Höhe und lässt es dann zu Boden stürzen, wo es zerbricht. Das war’s mit hundert Jahren Repräsentation. Die Zeiten ändern sich nun mal, bloß nicht sentimental werden. Ein Reiterstandbild aus Bronze ist ja auch nicht gerade die große Kunst. Also Platz für das Neue!

Die Bauleute, pardon Künstler, kommen, fräsen eine Markierung in die Steinplatten, wo vormals der Reiter nicht vom Fleck kam, genau vier mal vier Meter. Ein Leuchtstreifen markiert das magische Quadrat, das, laut Selbstauskunft des Museums für moderne Kunst, ein geschützter Ort der Mitmenschlichkeit und Solidarität sein soll. Den Slogan hat eine Werbeagentur entworfen.

Der Direktor des Museums heißt Christian (wir sind in Stockholm, Schweden, da hat man bloß Vornamen) und ist ein besonders innovativer Typ, der um keine Gebrauchsanweisung für eines seiner unscheinbaren Exponate verlegen ist. Gern doziert er darüber, wie ein Alltagsgegenstand zu einem Kunstwerk wird. Christian weiß, auf die schlichte Botschaft kommt es an, wenn man etwas verkaufen will. Am Eingang seines Museums muss man sich entscheiden, rechts geht es dem Wegweiser nach »Ich vertraue meinen Mitmenschen« und links »Ich vertraue meinen Mitmenschen nicht«. Das ist zugleich eine Art Abstimmung, denn eine Leuchtschriftanzeige sagt uns, wie viele in welche Richtung gingen.

Dann betreten wir die Welt der Installationen, der Events, ein Ort, wo Kunst nur noch in Gestalt einer »Kunstaktion« anzutreffen ist. Christian verkauft pausenlos die Avantgarde - und sich selbst als coolen Typ, der, weil er auch ökologisch in vorderster Front kämpft, natürlich eines dieser sagenhaft teuren Tesla-Elektroautos fährt. Wer sagt eigentlich, dass man nicht Millionär, Kommunist und Öko-Aktivist in Personalunion sein kann? Wo sind wir hier, in einer Scientology-Filiale, in Orwells »1984« oder in Truffauts »Fahrenheit 451«, dieser überaus gegenwärtigen Apokalypse-Vision, die sich in der Smartphone-Ära einzulösen scheint?

»The Square« von Ruben Östlund, der die diesjährige Goldene Palme in Cannes erhielt, ist ein tief verstörender Film, ein Blick in den Spiegel jener Klientel, die sich gern als kulturelle Elite präsentiert und dabei selbst am wenigsten das besitzt, was sie doch für sich reklamiert: Kultur. Denn die verkauft sie ja ständig.

Der Befund von »The Square« lautet: Es steht schlimm um uns, um eine Gesellschaft, die auseinanderfällt, in diejenigen, die ihre kostspieligen Spiele treiben und die anderen, die im Dreck auf der Straße liegen und betteln müssen, damit sie nicht verhungern. Gibt es noch Werte für alle jenseits von Narzissmus und Marketing? Regisseur Östlund spielt anhand des Überfliegers Christian (unerschütterlich bis zur Gleichgültigkeit: Claes Bang) ein Szenario durch, in dem Realität und Realitätssimulation identisch scheinen. In so einer Welt wird alles zur Farce. Man sollte diesen Film sehen, um zu wissen, was wir schon nicht mehr sind, wie viel von uns wir bereits verloren haben an all das Kommunikationsgetue, das bloß ein schaler Gesprächsersatz ist, an den Therapiewahn, der aus inhumanen Zuständen für sich selbst eine Goldgrube macht, an die medial verstärkte Kampagnenmentalität, die unbequeme Meinungen Einzelner in Indizien gegen diese verwandelt. Der mündige Bürger, der die Freiheit des Andersdenkenden wie die seine schützt, wo ist er hin?

Wohin Scheindebatten führen, kann man hier sehen: in fortwährende Selbstbestätigungsrituale einer Klientel, die sich selbst für den Maßstab aller Dinge nimmt - während er ihnen doch längst abhanden gekommen ist. Demokratie ist nur, wenn wir das Sagen haben? Christian ist durchaus Pragmatiker. Wenn die Putzfrauen versehentlich ein Kunstobjekt aus Sand weggesaugt haben, dann legt er selbst Hand an, es wiederherzustellen. Der Film ist voll von Szenen, die den wachsamen Mittelstandsbürger zeigen, der für seine Privilegien bis zum Letzten kämpft. Christian hat verblüffend schnell Sex mit einer Frau, die offenbar gerade nichts anderes vorhat. Er muss nicht mal dafür zahlen, das macht ihn allerdings misstrauisch. Als Anne (er hat sich sogar ihren Namen gemerkt, weil er ahnt, sie ist der Typ, der zurückkommt und ihn danach fragt) jedoch sein Kondom entsorgen will, klammert er sich daran fest, als wolle sie ihm die Brieftasche aus der Hand reißen. Von so einer lässt er sich doch nicht aufs Kreuz legen! Kalküle, Schlagzeilen, Slogans, das ist seine Welt. Kunst? Ach, das war gestern.

Es geht um den »viralen Effekt«, da sind sich Kurator und PR-Leute einig. Ja, das Virus steckt an, Wirkung ist garantiert, aber welche? Das bislang erfolgreich ignorierte echte Leben schlägt hart zurück. Es gibt offenbar Unterprivilegierte, die Aggressionen haben, die den vom Mainstream für ideal befundenen Konsens nicht akzeptieren, sondern bekämpfen. Zuerst werden Christian auf offener Straße Portemonnaie und Handy geraubt, in einer perfekten Kunstaktion, wie er eingestehen müsste, wäre er nicht so maßlos empört. Er wird diese Leute schon überführen, er ist schließlich intelligenter als diese Zukurzgekommenen.

Dann ist das schöne Spiel plötzlich gestört. Die Werbeagentur lässt in einer Filmanimation für das magische Quadrat des Mitgefühls und der Solidarität ein »blondes Bettlerkind« in die Luft sprengen (hat auch eine Theorie darüber), und bei einem Diner im Museum entgleist die Affenperformance vollständig. Der Mann im Gorilla (furios: Terry Notary) greift die Ehrengäste an ihren Tischen an. Woher kommt nur diese plötzlich ausbrechende Brutalität, fragen sich alle schockiert. Wer diesen außergewöhnlichen Film gesehen hat, fragt es sich nicht mehr.

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