Cineasten der Revolution
Dsiga Wertow und Sergej Eisenstein im Filmfrühling der UdSSR. Von Stefan Amzoll
Wehe einer politischen Avantgarde, pflügt sie mit ihren gesellschaftlichen Kräften den Boden nicht so weit um, dass eine Kunstavantgarde entstehen und wachsen kann. Mit der Oktoberrevolution 1917, getragen von breiten Massen und angeführt von den Bolschewiki, keimte solche auf und schwang sich zu einer Höhe, wie sie ihresgleichen suchte.
Keine westliche Avantgardebewegung seinerzeit hatte diesen anschwellenden Enthusiasmus wie die sowjetrussische. Der Futurismus etwa eines Marinetti in Italien war ein schwacher Abglanz gegen den Elan der Filme, die Begeisterung der Poesien und Bilder eines Wertow, Eisenstein, Pudowkin, Dowschenko, Kuleschow, des Theatermachers Meyerhold, des Konstruktivisten Rodtschenko, der kubistischen Malerin und Produktionskünstlerin Popowa, der Dichter Babel und Majakowski. Kunstprodukte eroberten die Öffentlichkeit, wie sie noch nie gesehen und gehört worden waren.
Hier sei in erster Linie von den Filmemachern Dsiga Wertow und Sergej Eisenstein wie deren Umfeldern die Rede, Schöpfer unvergleichlicher, den damaligen revolutionären Prozessen zugewandter Filme.
Seinerzeit strömten die Menschen in die Kinos, begeistert von der Technik und gerührt von den beweglichen Bildern. Sie beweinten die Akteure der Tragödien und bestaunten die Exzentrik der in die Zukunft weisenden Filmkunst. Die allermeisten der revolutionierten Innovatoren waren noch jung und voller Tatendrang. Sie teilten die schonungslose Negierung alles Überlebten. Für sie hatte sich ein neues Zeitalter eröffnet, eins mit Bergen von Problemen.
Elend und Mangel waren keinesfalls verschwunden nach der Revolution, sondern griffen teilweise weiter aus. Die Stromversorgung, sofern es eine gab, stockte vielfach. Die Fabriken mussten erst wieder in Gang kommen. Fällig war die Modernisierung der Wirtschaft insgesamt. Die Alphabetisierung der Menschen bis ins letzte Dorf hinein stand an.
Zugleich wehte überall die Fahne des Aufbruchs. Alles Überkommene, ob gut oder schlecht, stand plötzlich zur Disposition. Die jungen Cineasten attackierten mit Vorliebe den Spielfilm, weil der nur die altbekannten Geschichten reproduzierte und nichts Neues anbot. Dsiga Wertow 1918: »Wir sprengen den Film in die Luft, um Film sehen zu können.«
Seine Erfindung des »faktografischen Films« ermöglichte es Wertow, die Wirklichkeit der Sowjetunion zu zeigen. Und zwar mit ausschließlich originalen Bildern, ohne jegliche Schminke, ohne Schauspielerei, ohne das Tralala der Unterhaltung, ohne die Farben von Komödie und Tragödie. Zugleich entwickelte er die Magazinform, also die Aufeinanderfolge verschiedenster Themen und Sujets, als typisch sowjetrussische und nannte sie »Kino-Prawda« oder »Kino-Nedelja«. Das gigantisch Neue infolge der Revolution schaute der Cineast allerdings anders an als der gewöhnliche Erdenbürger, nämlich als Künstler, der die damals weltweit expandierende Illusionsindustrie zutiefst verachtete. Wertow, geboren 1896 als David Abeljewitsch Kaufmann, Jude, Kommunist, filmte die Wirklichkeit, aber er filmte sie nicht bloß ab. Seine »Wirklichkeit«, tritt sie vors Okular, beginnt zu arbeiten, zu atmen, ja zu laufen, ihre Logik auf der Zeitachse erfährt sie am Schneidetisch und ihre Wahrheit enthüllt sie auf der Leinwand.
Oberflächlich besehen, ähnelten seine Magazinausgaben durchaus den Wochenschauen, wie sie auch in deutschen, französischen oder US-amerikanischen Kinos liefen, und doch lagen Welten dazwischen. Ausländisches Material einzubeziehen, diente häufig dazu, Auswüchse des westlichen Kapitalismus aufs Korn zu nehmen. Schwarz-Weiß-Malerei betrieb Wertow auf hohem Niveau. Das war der Zeit geschuldet und seinem Genie. Revolutionen überwinden Verhältnisse, stoßen sich von diesen ab, in dem Fall von den reichen kapitalistischen Säcken und dem als unmoralisch empfundenen Amüsement in den westlichen Großstädten. Hochgestellte Damen in Gala und sektlaunige Herren in Frack und Zylinder kommen in Wertow-Streifen optisch schlecht weg, etwa in dem Film »Ein Sechstel der Erde«.
Die »Film-Prawda« kam von 1922 bis 1925 alle paar Wochen in neuer Folge in die Kinos. Ein ganzer Stab von Leuten war damit beschäftigt, darunter sein Bruder Michael Kaufmann als Kameramann. Die Nr. 13 wurde zum fünften Jahrestag der Revolution produziert. Untertitel: »Gestern - heute - morgen«. Sie zeigt Material aus fünf Jahren sowjetischer Gesellschaftsentwicklung. Der Filmhistoriker Alexander Schwarz aus München sagt, Wertow habe »diese Materialien gebaut wie ein Haus aus Ziegeln«.
Wertow schwärmte aus mit seinen Leuten und besuchte Orte, die früher eher gemieden wurden, Gebiete, wo die ökonomische, soziale, kulturelle Rückständigkeit am auffälligsten und deren Überwindung am dringlichsten waren. Seine »Kinoki-Gruppe« drehte in Fabriken, Häfen, Schulen, Universitäten, in Vierteln der Armen. Sie ging zu den Handwerkern, filmte Zeitungsjungen und Schuhputzer, zeigte in gewagten Kamerafahrten den anwachsenden Verkehr und das Wachstum der Städte.
Jedoch immer noch grassierten Nöte in den Städten, Plackerei und Missernten auf dem Lande, was den Okularen der Wertowschen »Kinoki-Gruppe« nicht verborgen blieb. Der Berliner Filmhistoriker Günter Agde: »Als 1921 in der Ukraine eine große Hungersnot ausbrach, sind die dahingefahren und haben hungernde Kinder gedreht. Der Zuschauer sollte beim Ansehen dieser Bilder empfinden, es muss geholfen werden. Sozusagen ein filmischer Appell an die Solidarität.«
»Donbass-Symphonie«, 1930 gedreht an der »Aufbaufront« - Charlie Chaplin sah den Film damals und war begeistert -, bringt eine Szene, in der sich eine Kirche trickreich in ein Kulturhaus verwandelt. Der Sowjetstern ragt zu guter Letzt auf der Kirchturmspitze. Mit diesem Werk schuf Wertow den ersten Tonfilm der UdSSR. Hatte er in dem Experiment »Der Mann mit der Kamera« von 1929, seinem berühmtesten Film, dies höchst wunderliche Gerät von früh bis abends durch die Stadt laufen, ja auf Autos rasen lassen, so in »Donbass-Symphonie« über unerhört schwierige technische Prozeduren das Mikrofon. Ein Streifen, dessen technisch hohe Perfektion weltweit bestaunt wurde.
Sergej Michailowitsch Eisenstein, geboren 1898, Sohn jüdisch-russischer Eltern, Cineast, Zeichner, Dichter, Kommunist, schuf mit »Panzerkreuzer Potemkin«, »Streik« und »Oktober« die stärksten Revolutionsfilme überhaupt. Der »Potemkin« mit seinem dynamischen Puls, Menschenmassen in Bewegung zu versetzen, wurde sogar auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 mit dem Prädikat des »besten Films aller Zeiten« bedacht. Wertow und Eisenstein einte, den revolutionären Veränderungen ihren künstlerischen Stempel aufzudrücken, der eine, indem er das Leben filmte, wie es wirklich ist, der andere, indem er die Rhythmen zurückliegender Revolutionsvorgänge wie Hammerschläge der Zukunft wiedergab.
Weniger bekannt ist, dass Eisenstein seit Mitte der 20er Jahre sich auch aktuellen Themen zuwandte, zumal in der Sowjetunion Ende 1925 die »Generallinie« zur Umgestaltung des Dorfes beschlossen worden war. Es kostete ihn größte Mühe, den gleichnamigen Film - später auf Stalins Wunsch hin in »Das Alte und das Neue« umgetauft - gegen die Filmbürokratie durchzubringen, schließlich 1929 zu vollenden.
Es geht darin um die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Emanzipation der Frau. Der Oktober riss die Frauen aus ihrem Untertanenstatus heraus, in dem sie über Jahrhunderte gefangen waren. Das gehörte von Anfang an zum Programm der Bolschewiki. Volkskommissarin Alexandra Kollontai sorgte 1917/18 sofort für neue, historisch einzigartige Gesetze: keine Pflicht zur offiziellen Eheschließung mehr, straffreier Schwangerschaftsabbruch, Recht auf Arbeit, Kinderschutz. Allerorten entstanden Kinderkrippen und Kindergärten, in denen die kollektive Erziehung eingeführt wurde.
Das Frauenbild der Filme drehte sich um 180 Grad. Frauen nahmen darin das Heft in die Hand. Vorgänge zeigen ihre Befreiung vom Patriarchat, demonstrieren, unter welchen Umständen sie zu gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft wurden. Derlei tangierte Massen von Personen und Familien. Beispielgebend hier Wsewolod Pudowkins Spielfilme »Die Mutter« nach Gorki und »Das Ende von St. Petersburg«, sodann Friedrich Ermlers »Der Mann, der sein Gedächtnis verlor«. Und eben Eisensteins »Das Alte und das Neue«, wo jene einfache Bäuerin, fortgestoßen von ihrem Dienstherrn, einfach nur leben will und darum die Revolution selbst macht, indem sie eine Kolchose gründet.
Unerhört viel ist erreicht worden in den 15 Jahren nach der Revolution, ein »gigantisches Laboratorium« entstand und nahm seinen Lauf, »das eine verfälschende Geschichtsschreibung heute gern auf eine Art gigantisches Straflager reduziert«, und unerhört viel ist danach in Scherben gegangen.
Die Weichen wurden schon in den besseren Jahren gestellt. Um 1930 häuften sich auf Geheiß der Filmbüros die Schnittauflagen und das Nachdrehen von Szenen. Seltener kam es zu Verboten. Günter Agde: »Flankiert wurden diese Vorgänge durch eine damals sehr lebhafte Öffentlichkeit. Viele dieser Filme wurden in den einschlägigen Publikationen heftig diskutiert.« Später sei die realistische Zeichnung von Charakteren im Spielfilm allmählich verschwunden. Dsiga Wertow, um 1935 bei den Filmbehörden schon abgeschrieben, passte sich wie mancher seinesgleichen widerwillig an. Sein Film »Ein Wiegenlied« von 1937 ist eine Stalinverherrlichung, die anzusehen einem Schmerzen bereitet.
Der Zweiteiler »Iwan der Schreckliche« von Eisenstein, jene bedeutende Arbeit aus den Jahren des Kriegs und Nachkriegs, darf nicht unerwähnt bleiben. Der Film, in seinen einprägsamen Bildkompositionen unübertroffen, bringt das Leben des Zaren Iwan im 16. Jahrhundert auf die Leinwand: hell, prunkvoll, pathetisch einerseits, zum anderen so düster, dass einem schaudert. Aufstieg und Niedergang der von Stalin geliebten Figur sind die Pole der Teile. Erlaubt hatte der »Verdiente Mörder des Volkes«, wie Brecht den Generalissimus titulierte, nur den Aufstieg. 1946 erhielt der Regisseur für Teil I den Stalin-Preis. Teil II verbot der »Große Zuschauer« hingegen, denn der zeigt den einst reformorientierten Zaren in seiner ganzen Schrecklichkeit. Hat er sich in dem Herrscher selbst erkannt?
In den anderthalb Jahrzehnten nach der Revolution konnte sich eine wahrhaft eigenständige sowjetische Kinokultur herausbilden. Die gesamte materielle Basis des Filmwesens gedieh so weit, dass sie internationalen Standards entsprach. Filme gehörten fortan zum Gemeingut der Menschen bis zum letzten Dorf. Das Kino öffnete sodann den Blick für die unterschiedlichsten Erzählweisen. Tragisches und Komisches, Geschichtliches, Soziales und Politisches, Spannendes und Langweiliges reichten im Filmangebot einander die Hand.
Die Errungenschaften der Filmavantgarde aber verloren zusehends an Reiz. Die Neuartigkeit war weg. Jeder Macher verstand bald, im Stile der großen Innovatoren zu montieren und den Ton einzusetzen. Eine Art Avantgardesterben begann. Daneben erfasste der in den 1930er Jahren aufkommende weltweite »Romantismus« auch das sowjetische Kino. Er bestärkte die Zensurbehörden in ihrem Kampf gegen angeblich unverständliche, »volksschädigende« Filme. Die Repressionen der Stalin-Ära taten ein Übriges, die Filmkunst und nicht nur diese in mancher Hinsicht auf den Hund zu bringen.
Unvergessen sind die Ermordeten: Tretjakow, Kolzow, Babel, Meyerhold und viele mehr, die Bedrängten Dowshenko, Majakowski, Schostakowitsch und - Dsiga Wertow und Sergej Eisenstein.
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