Chemie ist wieder wer
Folge 123 der nd-Serie Ostkurve: Trainer Dietmar Demuth über die BSG, Politik im Stadion und Leipziger Rivalitäten
Dietmar Demuth kommt mit seiner zehnjährigen Tochter zum Interview – Arm in Arm, beide gut gelaunt. Wenig später sitzt Nicole etwas gelangweilt mit am Tisch eines Potsdamer Straßencafés. Ablenkung bietet das Handy, Fußball ist nicht so ihr Ding. Das ihres Vaters umso mehr. Der 62-Jährige kann viel erzählen, er hat viel erlebt – als Profi beim FC St. Pauli, in Leverkusen und Offenbach, als Trainer wieder bei St. Pauli, in Wolfsburg, Braunschweig, Chemnitz oder Meuselwitz. Seit Januar 2016 trainiert er die Fußballer der BSG Chemie Leipzig. Die positive Entwicklung des 1997 neu gegründeten Klubs führte er zuletzt mit zwei Aufstiegen fort. Jetzt, in der Regionalliga Nordost, gibt es wieder Stadtderbys gegen Lok. Eine gewisse »Rivalität« gehört für Demuth zum Fußball dazu.
Seine längste Trainerstation war der SV Babelsberg – von 2007 bis 2012. Seitdem wohnt Demuth in Potsdam. Hier fühlt er sich wohl, könnte aber »jederzeit emotionslos die Zelte wieder abbrechen«, sagt er, »weil man im Fußball, egal wo man ist, immer schnell neue Leute kennenlernt.« Sich selbst beschreibt er als unkomplizierten Typ. Der Familie wegen ist es aber besser in Potsdam zu bleiben: »Sie hat hier ein soziales Umfeld und Freunde gefunden.« Seine Frau hat er 2003 in Ghana kennengelernt, als er ein Jahr lang den AshantiGold SC in Obuasi trainiert hat. Vier Mal in der Woche fährt er zum Training nach Leipzig. An diesem Dienstag nicht. »Nein, dieser Verein interessiert mich überhaupt nicht«, antwortet er auf die Frage, ob er denn am Abend zum Champions-League-Spiel von RB gegen den FC Porto gehe.
Sie sind viel rumgekommen in ihrer Zeit als Spieler und Trainer. Seit zehn Jahren wohnen Sie in Potsdam. Ist die Stadt zu Ihrer zweiten Heimat geworden?
Ja, irgendwie schon. Aber ich fühle mich eigentlich überall wohl, da bin ich sehr unkompliziert. Egal, wo ich bin, ich nehme die Gegebenheiten an und versuche mich sofort einzubringen. Ich kann mich schnell akklimatisieren, deshalb sind Umzüge auch keine große Umstellung für mich. Wenn man das nicht so kann, dann bekommt man in diesem Job schnell Schwierigkeiten. Der Fußball, gerade als Trainer, ist wirklich nicht familienfreundlich. Aber ich muss ja auch weiterdenken, an meine Familie, an meine Kinder, die hier zur Schule gehen. Und die immer wieder aus einem Umfeld rauszureißen, ist auch nicht so prickelnd.
Seit fast anderthalb Jahren sind Sie Trainer bei Chemie Leipzig. Wie kam der Kontakt zustande?
Nach meiner Zeit beim ZFC Meuselwitz kam die Anfrage von dem damaligen Sportlichen Leiter Uwe Kuhl. Ob ich mir das bei Chemie vorstellen könnte? Da musste ich erst mal überlegen - sechste Liga, das war natürlich ein Rückschritt. Aber Uwe Kuhl sagte: »Guck es dir doch mal an, das Umfeld und und und. Chemie ist ein schlafender Riese, da kann man was bewegen.« Also bin ich runtergefahren und habe dann die Begeisterung bei dem Verein und das Zuschauerpotenzial gesehen. Ich habe mir ein Spiel angeguckt und mir dann gesagt: Wenn du hier wirklich Erfolg hast, dann kann wirklich was entstehen. Und bevor ich nichts mache, meiner Frau zu Hause auf den Keks gehe, versuche ich das. Mehr als scheitern geht ja nicht.
Eine gute Entscheidung, oder?
Auf jeden Fall. Von dem, was wir uns vorgenommen haben, konnten wir vieles umsetzen.
Was kommt nach zwei Aufstiegen hintereinander als nächstes?
Es gibt richtig viel zu tun. Sportlich zählt in dieser Saison nur der Klassenerhalt. Aber der Verein ist mit der sportlichen Entwicklung nicht mitgewachsen. Trotz einiger Hinweise wurde vielleicht etwas spät reagiert und all das, was jetzt in der Regionalliga mit der viel größeren Öffentlichkeit oder Auflagen durch die Verbände auf uns zugekommen ist, unterschätzt. Aber wir arbeiten daran. Mit unserer Infrastruktur. hängen wir gewaltig hinterher. Wir haben ein wunderbares Gelände und schönes Stadion. Aber das ist alles in die Jahre gekommen. Und um das zu bewirtschaften und wieder auf Vordermann zu bringen, benötigt man natürlich finanzielle Mittel. Wir sind gerade dabei, Fördermittel zu beschaffen und, und, und. Sonst bricht alles irgendwann auseinander und zerfällt.
Was muss im sportlichen Bereich verbessert werden, um sich in der vierten Liga richtig zu etablieren?
Wir trainieren derzeit nur vier Mal in der Woche. Das ist sicherlich zu wenig für diese Liga, das wissen wir und das merken wir auch immer wieder in den Spielen. Die meisten Gegner können eben doppelt so oft wie wir trainieren. Das ist der eine Punkt. Hinzu kommt, dass viele meine Spieler direkt aus der Uni oder von der Arbeit zum Training kommen. Die haben dann natürlich noch nicht den Kopf frei für komplizierte Aufgaben auf dem Platz. Aber all das, was uns derzeit fehlt, machen wir durch unseren Willen und Zusammenhalt wett. Wir sind ein Team und treten als Einheit auf. Aber um irgendwann wirklich konkurrenzfähig zu sein oder höhere Ziele anzugreifen, müssten wir dahin kommen, dass alle Spieler nur vormittags arbeiten und wir jeden Nachmittag trainieren. Aber das geht nicht ohne zusätzliche finanzielle Mittel, das ist einfach so.
Für die meisten Klubs ist die vierte Liga ein Überlebenskampf. Ist die Regionalliga, unter der Verantwortung der Regionalverbände, eine gesunde Spielklasse?
Für alle ist es ein Krampf. Wir haben das Glück, viele Fans zu haben. Wir haben einen Zuschauerschnitt von 3000, das ist Wahnsinn. Nur Cottbus und Lok haben mehr. Und dann kommen schon wir als Aufsteiger. Aber allein von den Zuschauereinnahmen kann ein Verein nicht überleben. Hinzu kommen dann die Auflagen, Sicherheitskonzepte, Fluchtwege. In der vierten Liga musst du innerhalb von zwei Jahren Flutlicht installieren. Das ist Pflicht. So eine Anlage kostet mal eben 500 000 oder 600 000 Euro. Wie soll so ein Verein das stemmen? Das ist schon verdammt schwer. Also gesund ist die vierte Liga sicherlich nicht. Ich möchte jetzt keine Namen nennen, aber wenn ich dann noch sehe, was es außerhalb von Leipzig für Stadien gibt und was die für Sicherheitsvorkehrungen haben, dann muss ich sagen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.
In Leipzig spielen mit Chemie und Lok gleich zwei Klubs in der Regionalliga und RasenBallsport in der Bundesliga. Wirkt sich das auf den Kampf um Sponsoren spürbar aus?
Ja, jeder will natürlich was von dem Kuchen abhaben. Und es gibt ja nicht nur Fußball, auch guten Handball. Leipzig ist eine Sportstadt.
Wie erleben Sie die Fußballstadt Leipzig mit den drei Klubs Chemie, Lokomotive und RasenBallsport?
Die Rivalität ist ja bekannt. Die ist auch nichts Schlechtes, wenn man sie vernünftig auslebt, sie gehört zum Fußball dazu und kann auch förderlich sein. Das ist zwischen Lok und uns so. Jetzt, wo wir aufgestiegen sind, ist die Rivalität noch spürbarer. Und der andere Verein, ja gut, der spielt in einer anderen Liga. Die machen es halt mit ihrer großen Kohle. Das können wir nicht und wollen wir auch nicht.
Wie sehen Sie persönlich das Modell RB?
Ich stehe dem auch skeptisch gegenüber. Was da alles im Vorfeld passiert ist, wie beispielsweise einem Verein die gesamte Jugendabteilung wegzukaufen, andere ausbluten lassen, da versteht man schon, dass die nicht gerade herzlich willkommen sind. Aber man muss auch irgendwo anerkennen, dass sie es sportlich gut machen. So wie am vergangenen Wochenende gegen Dortmund, da hab ich ein richtig gutes Spiel gesehen. Leider mit dem falschen Ergebnis (lacht).
Muss man sich als Viertligatrainer den großen Fußball anschauen?
Natürlich, man muss sich ja weiterentwickeln. Ob man das alles annimmt und umsetzt, ist was anderes. Ich muss das machen, wofür ich die Spieler habe und nicht sagen: Oh, jetzt ist es modern, mit ’ner Dreierkette zu spielen. Das geht nicht, wenn man die Leute dafür nicht hat. Viel wichtiger ist, die Spieler davon zu überzeugen, was man selbst spielen möchte.
Aus Ihrer eigenen Spielerzeit, gerade St. Pauli, ist überliefert, dass Sie gern mal nachts um die Häuser gezogen sind. Gestatten Sie Ihren Spielern auch mehr Freiheiten?
Alles zu seiner Zeit. Jeder Trainer hat natürlich was dagegen, wenn man Samstag spielt und Spieler Freitagabend auf der Piste sind. Aber wir sind noch so auf der Schwelle zwischen Amateur- und Profibereich, die gehen arbeiten und müssen natürlich auch eher mal Dampf ablassen. Und warum sollen sie nicht, wenn wir samstags gespielt haben, danach unterwegs sein. Sie können auch mal ein Bier trinken oder bei McDonald’s essen. Ich lasse den Spielern schon Freiheiten. Wenn sie das dann auf dem Platz zurückzahlen ist es eine Win-Win-Situation.
Zurück nach Leipzig: Abgesehen vom Kampf um Sponsoren, welche Schwierigkeiten bereitet die Rivalität noch?
Wenn ein Spieler von Chemie zu Lok geht oder andersherum, wird das natürlich ganz anders beäugt. Aber um sportlich weiterzukommen, muss man nicht unbedingt von Lok oder von RB einen holen.
Sie haben vor der Saison mit Julien Latendresse-Levesque einen Torwart von Lok verpflichtet. Gab es negative Reaktionen bei Chemie?
Nö, überhaupt nicht. Man kann es ja auch andersrum drehen: Wir haben dem Konkurrenten einen guten Torwart weggeschnappt und ihn geschwächt. Wenn so ein guter Spieler zu haben ist und der wegen der Familie auch noch in Leipzig bleiben möchte, muss ich natürlich zugreifen.
Chemie ist nach dem Chemnitzer FC, Babelsberg 03 und Meuselwitz bereits Ihre vierte Trainerstation im Osten. Sie sind in Querfurt geboren, aber im Westteil Deutschlands aufgewachsen. Gibt es eine, besondere, vielleicht familiäre Beziehung zum Ostfußball?
Nö. Meine Eltern sind rüber, da war ich ich ein Jahr oder zwei Jahre. Also Geburtsort ist Querfurt, aber aufgewachsen bin ich in Hamburg. Das hört man ja auch an meinem Slang. Wenn man fußballinteressiert ist, guckt man auch über die Grenzen hinweg. Also hat mich schon immer interessiert, was beispielsweise Dynamo Dresden macht. Als Trainer hat es in Chemnitz angefangen. Ich kam gerade aus Afrika zurück und hatte dann Anfragen vom 1. FC Union Berlin und Chemnitz. Union hat abgesagt, also hab ich dann 2005 Chemnitz in der dritten Liga übernommen. So bin ich dann im so genannten Osten gelandet.
Auffällig ist auch, dass Sie bei vielen Vereinen mit einer großen und sehr aktiven Fanszene gearbeitet haben. Wie wichtig ist Ihnen das Umfeld?
Ich freue mich natürlich, wenn man bei solchen Traditionsvereinen arbeiten darf, die eine große Anhängerschar haben. Das birgt aber auch einige Probleme. Wenn man für die Weiterentwicklung notwendige Dinge machen und durchsetzen will, die auf den ersten Blick mit der Fankultur nicht zusammenpassen. Damit muss man sich dann offen auseinandersetzen und versuchen es den Jungs plausibel zu erklären.
Gab es jetzt bei Chemie schon mal solch eine Situation?
Nee, überhaupt nicht. Die Fans haben hier ein gewisses Mitspracherecht, und der Vorstand kommt ja auch aus diesem Dunstkreis. Bisher sind alle einverstanden. Und alle freuen sich natürlich auch riesig: Wir sind jetzt wieder wer. Das macht alle Chemiker mächtig stolz, dass wir wieder ein Punkt auf Fußballlandkarte sind.
Babelsberg, St. Pauli und jetzt Chemie Leipzig sind auch Vereine mit einer klaren politischen Haltung: gegen Rassismus und Diskriminierung. Wie wichtig ist Ihnen das?
Ganz klar, das ist sehr wichtig und sollte es jedem sein. Was ich besonders schön finde, ist das Beispiel St. Pauli. Jeder weiß, wofür die Fans und der ganze Verein steht. Aber dort wurde es zumindest zu meiner Zeit nur ganz selten auf großen Bannern ins Stadion getragen. Da wurde gesagt: Jetzt ist die Zeit, um Fußball spielen, um die Mannschaft anzufeuern, um Spaß zu haben. Bei Chemie ist es jetzt genau so - die feuern 90 Minuten die Spieler an, wissen aber auch alle, für was wir stehen. In Babelsberg war mir das ein Tick zu viel. Da ging es im Stadion zu oft nur ums Politische, waren die Fans zu weit vom Fußball entfernt. Da ging es nicht mehr darum, die Mannschaft anzufeuern. Damit war ich nicht einverstanden, weil dadurch auch andere Zuschauer verschreckt werden, die Fußball sehen und das Event erleben wollen.
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