- Kommentare
- Im Dschungel von Calais
Wo schön und beschissen so eng beieinander lagen
Ein Jahr nach der Räumung des wilden Flüchtlingslagers leben Geflüchtete unter noch widrigeren Umständen. Ein Erfahrungsbericht
Jetzt bin ich schon elf Tage hier. Hier, das heißt wieder in Calais. Wieder im Warehouse. Aber nicht im »Dschungel«, denn den gibt es nicht mehr. Von der kleinen, lebendigen Stadt von früher voller Wut, Elend, Trauer, aber auch Solidarität und Hoffnung, ist ein Jahr nach der Räumung nichts übrig geblieben.
Als wir das erste Mal dort vorbeifuhren, kamen mir die Tränen. Auf eine sehr merkwürdige Art und Weise vermisse ich diesen Ort. Das wird auf den ersten Blick für andere Menschen genauso seltsam klingen wie für mich selbst. Deshalb könnte ich versuchen, seitenlang zu erklären, was mich an diesem Ort – an dem Guten und Schlechten, Schönen und Beschissenen, das so eng beieinander lag – so sehr fasziniert hat. Aber wirklich verstehen kann das nur, wer den Dschungel selbst erlebt hat.
Nichts außer Hoffnung
Zum besseren Verständnis kann man die heutige Situation betrachten: Der Dschungel ist weg, doch die Menschen sind es nicht. In Calais und Umgebung leben 1000 bis 1200 Menschen, die immer noch die Hoffnung haben nach England zu gelangen. Sonst haben sie Nichts, geschweige denn Hab und Gut. Nichts, außer dem, das sie am Körper tragen. Und selbst das wird ihnen in regelmäßigen Abständen von der Polizei genommen.
Man muss sich das einmal vorstellen: In einem der reichsten Länder Europas schlafen über 1000 Menschen im Winter, an der Küste zum Ärmelkanal, jede Nacht unter freiem Himmel. Ohne Heizung, ohne Hütte, ohne Zelt. Und die Rolle der Polizei vor Ort? Über 70 Prozent der Menschen berichten, dass die Polizei in der letzten Woche (sic!) ihre Decken und/oder Schlafsäcke konfisziert oder zerstört hat – durchschnittlich passiert das den Menschen drei Mal pro Woche. Es passiert bei einstelligen Temperaturen.
Geräumt, nicht geholfen
An diesem 24. Oktober jährt sich nun also die Räumung des Dschungels zum ersten Mal. Doch warum lagern schon wieder so viele Menschen in Calais? Erneut an diesem Ort, aufgerieben zwischen Schmugglern und der gewalttätigen Polizeieinheiten der CRS. Es hat vor allem zwei Gründe:
Erstens ist Calais nun einmal DER Ausgangspunkt, um vom Festland nach England überzusetzen – egal ob für Touristen, Lkw oder eben Migrant*innen. Das wird vermutlich auch immer so bleiben. Und wenn nicht, dann wird es eben einen anderen solchen Punkt geben. Das Problem mit der Räumung des Dschungels lösen zu wollen, war genauso kurzsichtig gedacht wie abgrundtief widerlich durchgeführt.
Zweitens durfte der Dschungel nur unter der Bedingung geräumt werden, dass die französische Regierung für alle vertriebenen Menschen einen Platz in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes zur Verfügung stellen würde. Die Zahl der benötigten Plätze beruhte zwar auf staatlichen Schätzungen (man könnte es auch Fantasie nennen) und lag mit 4000 Menschen nicht einmal bei der Hälfte der benötigten Plätze, dies konnten die örtlichen Hilfsorganisationen jedoch vor Gericht korrigieren lassen. Den Minderjährigen mit Familienangehörigen in England wurde sogar versprochen, dass, man sie nach Großbritannien bringen würde. Das entsprechende Gesetz – genannt Dubs Amendment – gibt es bereits seit 2016. Viele der Minderjährigen kehrten jedoch aus einem einfachen Grund zurück: Das britische »Home Office« lehnte sie einfach ab. Somit bleibt der einzige Weg, nach England zu kommen, doch wieder die Ladefläche oder die Achse eines Lkw. Von den 480 Plätzen, die laut britischer Regierung zur Verfügung stehen, sind gerade einmal knapp 200 vergeben.
Außerdem kommt es für viele Menschen einfach nicht in Frage, in Frankreich Asyl zu beantragen. Wie denn auch? Alles was diese Menschen in Frankreich erlebt haben, sind Gewalt und Elend. Der französische Staat tut offensichtlich nichts – zumindest nichts, zu dem er nicht gezwungen wurde – um den Menschen zu helfen. Im Gegenteil, er blockiert nach Kräften alle Hilfe. Von der Polizei (natürlicherweise nun einmal DIE Vertretung eines Staates) erfahren die Menschen nur Gewalt und Schikane, meist schon an der französisch-italienischen Grenze, spätestens jedoch hier in Calais. Diese Zweifaltigkeit aus Verzweiflung (Frankreich) und Hoffnung (England) treibt die Menschen wieder nach Calais.
Aus einem wurden viele Camps
Anstatt eines großen Camps existieren jetzt mehrere »kleine«. Das größte ist nur circa 500 Meter vom alten Dschungel entfernt. Hier leben etwa 700 Menschen in einem kleinen Waldstück im Industriegebiet. Für die Menschen hat sich die Situation seit der Räumung nur verschlimmert, ganz im Sinne der Regionalregierung von Calais und mit Sicherheit auch im Sinne der Regierung in Paris. Der Dschungel war für die Menschen gleichzeitig Lebens- und Schutzraum vor der gewalttätigen Polizei und/oder den Angriffen örtlicher Faschist*innen (in vielen Fällen gehen diese Gruppen in Calais fließend ineinander über).
Im Dschungel gab es Restaurants, Schulen, Büchereien, Sprachkurse, Theater, religiöse Stätten etc. All das ist verschwunden. Selbst Trinkwasserverteilungspunkte, Duschen, Toiletten und das Recht, länger als zwei Stunden am Tag Lebensmittel und andere Dinge zu verteilen. Bei Nacht sind alle Menschen in Calais, die keinen europäischen Pass besitzen (und manchmal selbst mit europäischem Pass), der Polizei schutzlos ausgeliefert. Männer, Frauen, Kinder – sie alle werden im Schlaf von der Polizei mit Pfefferspray angegriffen, ihre Decken, Schlafsäcke, Essen und Trinken werden mit Pfefferspray oder CS-Gas unbrauchbar gemacht.
Das klingt nach faschistoidem Polizeistaat und Bürgerkrieg, ist aber Europa im Jahr 2017. Wer Genaueres über die Polizeigewalt nachlesen möchte, dem sei dieser Bericht von Human Rights Watch ans Herz gelegt. Mittlerweile fahren die Hilfsorganisationen so oft es geht nachts Patrouille, um den Menschen durch ihre bloße Anwesenheit ein Minimum an Schutz zu bieten. Meistens zügelt sich die Polizei nämlich recht schnell, wenn jemand mit europäischem Pass vor Ort ist oder gar das Handy zückt.
Weniger mediale Aufmerksamkeit, weniger Helfer
Seit der Dschungel und Calais aus den Medien und damit auch aus der Wahrnehmung der Menschen verschwunden sind, ist die Zahl der freiwilligen Helfer auf nicht einmal die Hälfte zusammengeschrumpft. Waren es früher über 100 Volunteers, die sich über längere Zeit in Calais aufhielten, sind es heute noch knapp über 50. Bei den Menschen, die nur einige Tage nach Calais kommen, ist der Rückgang sogar noch drastischer. Waren es früher jeden Tag an die 100 Menschen, so sind es heute manchmal nur noch fünf, an Wochenenden vielleicht mal 30 Menschen.
Mit den Spenden verhält es sich ähnlich. Die Refugee Community Kitchen (RCK), die jeden Tag circa 2000 warme Mahlzeiten kocht, hat etwa nur noch genug Geld für einen Monat. Wie es danach weitergehen soll? Vielleicht hat der Jahrestag der Räumung ja doch etwas Gutes und Calais kehrt zumindest für ein paar Stunden zurück in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit. Vielleicht kommen sogar genügend Spenden zusammen, um die kalten Wintermonate zu überstehen. Aufgeben ist hier in Calais sowieso nie eine Option. Doch das sagt sich leicht, wenn man im Warmen sitzt und der kalte Regen nur gegen die Fensterscheibe prasselt...
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.