Triebkraft Neugier
Louis Malle wäre 85
Zukunft? Das scheint nur noch eine einzige Assoziation auszulösen: Steigerungsrate. Zum Glück gibt es die Kunst: Sie kennt keinen Fortschritt, sie bleibt eine Basisgeschichte des Seelischen; Erinnerung an große Künstler gehört zu den beständigen Widerstandspartikeln gegen das blöde Rauschen des Neuen. Also auf zu Louis Malle - der Filmregisseur würde heute 85 Jahre alt.
Liebe, so erzählen seine Filme, sorgt für die leuchtendste Farbe. Jedes Herz ist ein blutendes, sobald man ihm zu nahe kommt. Das Kino Malles entfacht eine Trance der Unsicherheit, die alles, was Erkenntnis sein will, in geradezu gespenstischer Unfassbarkeit auflöst. Denk über dein Leben, wie du magst - was es in Wahrheit ist, das bleibt ein an der Ding. Der grandiose Film »Das Irrlicht« zum Beispiel: über fünfzig Jahre alt. Doch so akut! Das Porträt eines alkoholkranken Selbstmörders. Und mehr. Blicke aufs schwache Geschlecht: Es sind Männer, die beim Sex getröstet werden müssen. Skizzen des modernen Ruins: Das Begehren ist nur noch ein Invalide. Und was ein Mensch tut und warum er es tut: Es bleibt ein Triumph der Verdunkelung. Sowas kann über ein halbes Jahrhundert alt sein und wird doch eine Geschichte von morgen bleiben.
Nouvelle vague und Kino noir - französische Spezialitäten. Louis Malle servierte sie meisterlich. Er wurde 1932 als Sohn eines der reichsten Industriellen Frankreichs geboren. Auf die Frage eines Interviewers, was er mit hundert Millionen Francs täte, antwortete er: »Aber ich habe hundert Millionen.« Jedoch folgte er nicht dem Lockruf des Geldes, sondern dem der Neugier. Die er zeitlebens als »Triebkraft aller Lüste« bezeichnete. Neugier flieht Festlegung - so wurde der Absolvent der Pariser Filmhochschule Dokumentarist beim Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau und Assistent bei wahrlich krass entgegengesetzten Regisseuren: Robert Bresson (»Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen«) und Jacques Tati (»Mein Onkel«).
»Fahrstuhl zum Schafott«: düstere Bilder, kühler Jazz und der Wille des jungen Regisseurs, »diese Brigitte Bardot zum Mythos zu machen«. Dann »Die Liebenden« - ein Ehebruchsdrama, das allen eifernden Moralisten den anprangernden Zeigefinger brach. Und »Pretty Baby«, das USA-Entree des Regisseurs: Porträt einer zwölfjährigen Prostituierten. Malle liebte die Frauen, und er liebte es, dass sie Frauen blieben - indem ihr Selbstbewusstsein nicht zur Emannzipation verkam. Die erwähnte Bardot, dazu Jeanne Moreau, Susan Sarandon.
Malles Kunst - er starb 1995 - bildet eine Galerie der getriebenen Gemüter, die auf dem Grenzstreifen von Loyalität und Kriminalität, von Treue und Verrat, von Tugend und Verbrechen ins Elend stolpern. Ein Stolpern aber, das dem Bewusstsein erregende Tänze erfindet - so, als sei einzig das Verwerfliche jener starke, fruchtbare Kern, daraus Eleganz und Schönheit wachsen.
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