Ein Touch too much

Berliner Laisser-faire: Neukölln ist ein Safe Space für menschliche Unzulänglichkeiten

  • Maria Jordan
  • Lesedauer: 3 Min.

In Neukölln kann man sich so einiges leisten. Das Abgefuckedheits-Level ist trotz steigender Zuwandererzahlen aus Süd- und Westdeutschland noch immer ziemlich hoch. Das ermöglicht einem gewisse Freiheiten was das Benehmen in der Öffentlichkeit, die äußere Erscheinung und eigentlich Lebensentscheidungen aller Art betrifft. Also raus auf die Straße mit der alten Kommode und den leeren Bierflaschen (nach Sekunden ist das alles weg und in den Händen gewiefter Wiederverwerter, Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey kann also ruhig weiteratmen - Recycling funktioniert in Neukölln), Zweite-Reihe-Parken, Jogginghose Ghettomodus.

Auch muss man sich hier wegen diverser andernorts geahndeter sozialer Versagen nicht schämen: Lautstark und nicht jugendfrei über das am Boden liegende zerbrochene Glas Oliven fluchen, Fahrradfahren auf dem Gehweg - ja, auf der Treppe im Hermannquartier darf man sogar rechts überholen. In Neukölln hat man Verständnis für sonntagsnachmittägliche Trunkenheit und keine Angst vor Emotionen. Hier kann man noch ungehemmt lachen, weinen oder singen, ohne gleich schräg angeguckt zu werden. Man darf man selbst sein, mit allen Macken.

Warum grade hier? Nun, zum einen hat die Mehrheitsbevölkerung von Neukölln Wichtigeres zu tun, als sich darum zu kümmern, ob sich jemand auf der Straße über seine Ungeschicklichkeit ärgert oder vergessen hat, eine Hose anzuziehen. Die Menschen sind hier einfach nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Als sich mein verstimmter Magen (ich verrate nicht, wo ich zuvor gegessen hatte) einmal spontan auf einem U-Bahnhof entleerte, warf die Frau neben mir auf der Bank mir nur einen Blick zu, blieb völlig unbeeindruckt direkt neben mir sitzen und wartete einfach weiter auf die U-Bahn.

Zum anderen gibt es in Neukölln zum Glück immer jemanden, der noch einen drauf legt. Fängt man mitten auf der Straße in voller Lautstärke eine Pöbelei mit dem ADAC-Mitarbeiter an, der grade dein falsch geparktes Auto abschleppt, kommt binnen Minuten ein engagierter Geistesgestörter vorbei, der mit den Armen wedelt und brüllt »Vooooorsicht, die sind von der CIA!«. Und schon halten alle (Un)Beiteiligten einen nicht mehr für hysterisch und im Unrecht, sondern für eigentlich ganz vernünftig. Schleppt man sich blass und mit ungewaschenen Haaren zum Bäcker, weil der Kaffee alle und man verkatert ist, muss man sich keine Sorgen wegen des Aussehens oder Geruchs machen - irgendeiner wird mit noch fettigeren Haaren und fieserem Gestank deinen Arsch retten. Das liebe ich an Neukölln. Es gibt keinen sozialen Druck. Es ist ein Safe-Space für menschliche Unzulänglichkeiten.

Bis du dich eines Tages selbstbewusst im Bademantel an der Aldi-Kasse wiederfindest. Und deine perfekt gestylte Chefin aus Mitte triffst. Die dich völlig entgeistert anguckt. Und dir am Montag in einem unangenehmen Gespräch sagt, sie habe den Eindruck, du hättest die Kontrolle über dein Leben verloren. Vielleicht war der Bademantel dann doch ein Touch too much...

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