Über den Wert der Voreingenommenheit
Iwan Bunin: Sein Tagebuch »Verfluchte Tage« als Sonderausgabe zum Revolutionsjubiläum
Zu den ersten, im »Revolutionstagebuch« nachzulesenden Notizen über »die verfluchten Tage« gehört die über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918. Ab Februar folgt Eintrag auf Eintrag. Bereits am 24. März verlässt Iwan Bunin, mit einem Buch über die Bolschewiki im Gepäck, Moskau in Richtung Odessa.
Hier angekommen, greift der Schriftsteller am 12. April (nach dem julianischen Kalender) wieder zum Tagebuch. Am 20. Juni brechen die Aufzeichnungen leider ab. »Die darauffolgenden Blätter habe ich so gut in der Erde vergraben«, teilt er mit, »daß ich sie vor der Flucht aus Odessa, Ende Januar des Jahres 1920, einfach nicht wiederfinden konnte«. Im Pariser Exil erscheint das Tagebuch, zwei Jahre nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur 1933, unter dem Titel »Verfluchte Tage«. Während der Kriegsjahre lebt Bunin zurückgezogen in Grasse, der Welthauptstadt des Parfums. 1945 kann er nach Paris zurückkehren, wo er am 8. November 1953, nach schwerer Krankheit, stirbt.
Thomas Grob, exzellenter Kenner des Gesamtwerkes von Bunin, hat zu Recht davor gewarnt, »dieses Buch, das immer irritiert hat, […] einfach als Wahrheit über die Revolution […] als politisches Pamphlet oder als misanthropische Abrechnung mit dem russischen Volk zu betrachteten«. Es handelt sich eben nicht um ein Tagebuch im üblichen Sinne, sondern um einen »literarisierten Augenzeugenbericht«. Beim Lesen fällt die Nähe des Autors zu jenen Vertretern der Intelligenzija auf, die von April bis Juni 1918 für den von Pjotr Struve initiierten Sammelband »De profundis« (»Aus der Tiefe«) schrieben. (Eine vorzügliche Ausgabe von »De profundis« ist soeben im Suhrkamp Verlag erschienen.)
Von Agonie und Apokalypse ist die Rede, das Alte Testament scheint eine hochaktuelle Quelle zu sein, der Schriftsteller hält nicht zufällig am julianischen Kalender fest und besteht auf dem Menschenrecht, voreingenommen zu sein: »Unsere ›Voreingenommenheit‹ wird für den künftigen Historiker außerordentlich wertvoll sein«, notiert er am 10. Februar 1918. Schließlich geht es um eine Deutung jener Ereignisse, die heute, nach 100 Jahren, entweder als Umsturz, Putsch oder Revolution interpretiert worden sind.
Und, um abschließend noch einmal Thomas Grob zu zitieren: »Die Leerstelle der Zukunft, die Bunin hier nicht nur beschreibt, sondern in der Beobachterrolle inszeniert, ist eine Form des kulturellen Zusammenbruchs, des Zusammenbruchs von allem, was ihm als Bürger und Autor vorher wichtig gewesen war. […] Die Wucht, aber auch das Rätsel dieses Textes liegen sicher teilweise darin, dass wir Leser provoziert werden.«
Die vorzügliche Ausgabe wurde bei Dörlemann schon einmal 2005 im Rahmen einer Bunin-Werkausgabe verlegt, von der 2017 mit »Der Herr aus San Franzisco. Erzählungen 1914/1915« der achte Band erschien. Das Tagebuch »Verfluchte Tage« gibt es zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution in einer Sonderedition mit neu gestaltetem Titelbild. Die Lektüre sei allen empfohlen, die ein Interesse an ergebnisoffenen Berichten über die Revolution 1917 haben.
Iwan Bunin: Verfluchte Tage. Ein Revolutionstagebuch. Aus dem Russischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dorothea Trottenberg. Nachwort von Thomas Grob. Dörlemann Verlag, 260 S., geb., 20 €.
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