- Wissen
- Die Bedeutung von Ruhephasen
Schlafende Quallen und fressende Elefanten
Vom Nutzen der Ruhephasen und wie manche Tierarten trotzdem ohne solche auskommen
Cassiopeia andromeda, eine Schirmquallenart, ist ein archaisches und ziemlich bizarr anmutendes Lebewesen. Sie lebt in tropischen Gewässern, wo sie sich meistens am Grund aufhält und mit den ringförmigen Muskeln ihres Schirms periodisch nährstoffhaltiges Wasser in ihren Körper pumpt. Sie verfügt weder über Augen und Ohren noch über ein Herz, in ihrem Körper fließt kein Tropfen Blut, sie besteht zu 98 bis 99 Prozent aus Wasser, und sie muss ohne ein Gehirn auskommen. Und doch hat dieses äußerst urtümliche Nesseltier mit dem Menschen etwas gemeinsam: Es benötigt regelmäßig Schlaf. Zu dieser Erkenntnis ist kürzlich ein Biologenteam um Lea Goentoro vom California Institute of Technology in Pasadena gelangt. Die Wissenschaftler berichten über ihre Forschungsergebnisse im Fachjournal »Current Biology« (DOI: 10.1016/ j.cub.2017.08.014).
Als die Forscher Schirmquallen mit Videokameras rund um die Uhr beobachteten, entdeckten sie ein charakteristisches Anzeichen für einen Wach-Schlaf-Rhythmus: Nachts zogen die Tiere ihre Ringmuskeln statt 58 nur noch 39 Mal pro Minute zusammen. Außerdem reagierten sie auf äußere Reize nachts längst nicht so schnell wie tagsüber. Und als die Schirmquallen in den Nachtstunden durch Wasserstöße wiederholt aufgeschreckt wurden, ließen sie es am nächsten Morgen gemächlich angehen und legten immer wieder Ruhepausen ein. Offenbar versuchten sie, den versäumten Schlaf nachzuholen.
»Soweit wir wissen, ist unsere Entdeckung das erste Beispiel eines schlafähnlichen Zustands bei einem Lebewesen mit diffus vernetzten Nervenzellen. Das deutet darauf hin, dass es diesen Zustand schon vor der Herausbildung eines Zentralnervensystems gegeben hat«, schreiben Lea Goentoro und ihre Kollegen. Ob das bedeutet, dass Schlaf erstmals mit Lebewesen auftritt, die Neuronen besitzen, oder ob sogar Pflanzen schlafen, muss noch erforscht werden.
Warum Lebewesen überhaupt schlafen und warum manche es fast ständig tun, andere hingegen fast nie, ist nach wie vor ein großes Mysterium.
Die Zweizehenfaultiere gönnen sich den Luxus, jeden Tag ungefähr 20 Stunden schlafend zu verbringen. Raubtiere wie Löwen, Tiger oder Jaguare gönnen sich immerhin mehr als 12 Stunden Schlaf täglich. Allenfalls einige wenige Stunden Schlaf können sich hingegen solche Pflanzenfresser leisten, die ständig vor Raubtieren auf der Hut sein müssen.
Diese extremen Abweichungen bei der durchschnittlichen Schlafdauer sind offenbar in erster Linie auf unterschiedliche Lebensbedingungen zurückzuführen. Raubtiere sind in der Regel Langschläfer, weil es sie verhältnismäßig wenig Zeit kostet, sich ihre kalorienreiche fleischliche Nahrung zu beschaffen. Außerdem ist für Raubtiere das Risiko relativ gering, dass sie zur Schlafenszeit anderen Raubtieren, die auf der Suche nach einem saftigen Happen sind, zum Opfer fallen. Hingegen fehlt etlichen Pflanzenfressern die Zeit für ausgedehnte Schlafphasen, weil sie den Großteil des Tages damit beschäftigt sind, sich mit gigantischen Mengen von kalorienarmen Gräsern oder Blättern den Bauch vollzuschlagen. Allein deswegen bleiben Elefanten Tag für Tag 20 Stunden wach. Hinzu kommt, dass die meisten Pflanzenfresser Räuber zu fürchten haben und sich deswegen mit einem kurzen, leichten und häufig unterbrochenen Schlaf begnügen müssen. Dass Pflanzenfresser wie die Faultiere sich derart lange aufs Ohr legen, hängt damit zusammen, dass sie über einen sicheren Unterschlupf verfügen, in den sie sich zum Schlafen zurückziehen können. Mit der Dauer und Intensität seines Schlafs liegt der Mensch genau in der Mitte zwischen den Raubtieren und den von ihnen gejagten Pflanzenfressern.
Eine Fülle von Indizien spricht dafür, dass dem Schlaf eine biologische Schlüsselfunktion zukommen muss. Doch bis heute ist das Rätsel nicht gelöst, welche Funktion ihm die Evolution zugedacht hat.
Nach der ökologischen Theorie, zu deren bedeutendsten Verfechtern der US-Biologe Jerry Siegel gehört, soll der Schlaf Tiere in erster Linie dazu veranlassen, zu den Tageszeiten untätig zu bleiben, während derer sie die schlechtesten Aussichten haben, Nahrung zu finden, und wenn das Risiko für sie am größten ist, auf ihre Feinde zu treffen.
Gegen diese Hypothese spricht jedoch allein schon der Umstand, dass eine beträchtliche Zahl von Tierarten ihren Wach-Schlaf-Zyklus das ganze Jahr hindurch beibehält, obwohl sich ihre Lebensbedingungen von Jahreszeit zu Jahreszeit stark verändern. Nicht weniger gewagt ist die Behauptung, dass der Schlaf die Aufgabe habe, das ökologische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Demnach hätte die Evolution jenen Raubtieren einen langen Schlaf verordnet, die die Bestände ihrer Beutetiere durch Überjagung gefährden könnten. Die tatsächlichen Schlafgewohnheiten etlicher Tierarten - angefangen mit den Zweizehenfaultieren - stehen aber in krassem Widerspruch zu dieser Hypothese.
Des weiteren gibt es die Annahme, dass der Schlaf ein Mechanismus zur Senkung des Energieverbrauchs sein könnte. Diese These hat einiges für sich. Menschen profitieren allerdings kaum von diesem Effekt, und die Kalorienmenge, die durch das Dösen eingespart wird, ist eher gering. »In einer Nacht sparen wir im Schlaf gerade mal so viele Kalorien, wie eine Scheibe Toastbrot enthält«, sagt Jürgen Zulley vom schlafmedizinischen Zentrum der Universität Regensburg. Trotzdem ist für warmblütige Tiere, die reichlich Energie aufwenden müssen, um eine Körpertemperatur oberhalb der Umgebungstemperatur aufrechtzuerhalten, offenbar selbst eine geringe Senkung des Verbrauchs ein Vorteil im Überlebenskampf. Tatsächlich schlafen etliche solcher Säugetiere, die die kalten Klimazonen bewohnen und die aufgrund eines ungünstigen Verhältnisses zwischen Körperoberfläche und Körpervolumen rasch auskühlen, ungewöhnlich lange.
Diese Theorie tut sich allerdings schwer zu erklären, warum auch die wechselwarmen Reptilien und Amphibien und warum sogar Wirbellose wie Krebse, Bienen oder Fruchtfliegen auf die eine oder andere Weise schlafen. Ansonsten gilt: Nicht durch herkömmlichen Schlaf reduzieren Tiere in erster Linie ihren Energieverbrauch, sondern durch Winterschlaf, Winterruhe, Winterstarre oder Sommerschlaf.
Dass der Schlaf es dem Körper ermöglichen soll, sich zu regenerieren, ist eine schlüssige Hypothese, die sich auf zahlreiche Befunde berufen kann. Offenkundig beschleunigt sich während des Schlafs das Wachstum der Zellen, verschiedene Reparaturmechanismen sind am Werk, Stoffwechselprodukte, die sich tagsüber angesammelt haben, werden abgebaut, und das Immunsystem nutzt die Nachtstunden dazu, seine Abwehrkräfte zu verstärken. Doch bis heute ist nicht eindeutig bewiesen, dass Menschen, die ständig schwere körperliche Arbeit leisten, besonders viel Schlaf benötigen.
Junge Zebrafinken lernen das Singen, indem sie sich ausgiebig mit den Gesangskünsten eines älteren Vorbildes beschäftigen. Zunächst hören sie ihm wochenlang aufmerksam zu und prägen sich die Gesangsmuster ein. Erst danach versuchen sie sich selbst als Sänger, wobei sie an ihren Gesängen so lange feilen, bis sie mit den Vorlagen nahezu vollkommen übereinstimmen. Wie der Psychologe Sylvan Shank und der Biologe David Margoliash kürzlich herausgefunden haben, macht der Zebrafinken-Nachwuchs beim Singenlernen die größten Fortschritte, wenn er schlummert. Die gleichen Gruppen von Neuronen, die aktiviert sind, wenn die Jungvögel tagsüber ihre Gesangsübungen absolvieren, arbeiten nämlich auch nachts auf Hochtouren. »Wir glauben, dass die Vögel vom Singen träumen. Sie können anscheinend speichern, welche Nervenzellen tagsüber beim Singen aktiv sind, und proben dann nachts«, erklärt Daniel Margoliash.
Es scheint, dass auch Menschen wichtige Dinge im Schlaf lernen. Nach den Erkenntnissen des Schlafmediziners Jan Born ist das Gehirn immer dann, wenn das Bewusstsein ausgeschaltet ist, damit beschäftigt, Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu überführen, sie miteinander zu vernetzen, sie einzuordnen und zu bewerten; außerdem treibt es die Aneignung und Vervollkommnung von Fertigkeiten voran, indem es die ihnen zugrundeliegenden Handlungsprogramme immer wieder abspulen lässt. Einige Befunde deuten zudem darauf hin, dass im Gehirn während der Schlafphasen Wartungsarbeiten durchgeführt werden, in ihm aufgeräumt und es von nutzlosen synaptischen Verbindungen entrümpelt wird. »Jeden Tag«, erklärt der Neurowissenschaftler Giulio Tononi, »lernen wir mehr, als wir glauben. Tonnen von Erfahrungen hinterlassen Spuren, indem sie Synapsen verändern, meist verstärken. Es ist wunderbar, dass man so viele synaptische Spuren im Hirn haben kann, aber sie haben ihren Preis: Synapsen brauchen Proteine und Fett, Platz und Energie.«
Dadurch, dass im Schlafzustand das Bewusstsein abgeschaltet ist und das Gehirn kaum von äußeren Sinnesreizen behelligt wird, wird vermutlich eine Art Offline-Verarbeitung von gespeicherten Informationen ermöglicht. Laut dem Traumforscher Jonathan Winson kann das menschliche Gehirn deswegen mit Rechenleistungen aufwarten, zu denen es in den Wachstunden nicht imstande wäre, weil es dafür eine ungeheure Menge von Ressourcen benötigen würde.
Fazit: Der Schlaf ist nach wie vor viele Rätsel auf. Aber aus dem, was man mittlerweile weiß, ergibt sich immerhin eine Schlussfolgerung: Der Schlaf dient nicht einer Funktion, er hat mehrere Aufgaben - und je höher ein Lebewesen entwickelt ist, desto mehr sind es.
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