»Letzte Chance«

Die EU will sozialer werden. Jean-Claude Juncker sagt, dies sei notwendig, um den Staatenbund zusammenzuhalten. Die FDP findet das »nicht zielführend«

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wer mehr im sozialen Bereich tun will, tut mehr«, schrieb die EU-Kommission im Frühjahr in ihrem »Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas«. Das erinnert an Erich Kästners Ausspruch »Es gibt nicht Gutes, außer man tut es« - und bringt das Dilemma der EU auf den Punkt: Über die »soziale Dimension« zu reden, ändert noch nichts.

Der am Freitag im schwedischen Göteborg stattfindende EU-Sozialgipfel ist eine Absichtserklärung der europäischen Institutionen vor großer Kulisse. Dass es die schwedische Regierung ist, die als Gastgeberin fungiert für ein Treffen, bei dem die »Europäische Säule sozialer Rechte« (ESSR) proklamiert werden soll, ist sicherlich kein Zufall. Gilt doch Schweden als Wohlfahrtsnation schlechthin. Auch wenn die Zeiten von erfolgreichem Korporatismus, Vollbeschäftigung und einem umfassenden Sozialstaat auch hier längst vorbei sind; soziale Rechte in Griechenland oder Polen zu verkünden, hätte die Öffentlichkeit sofort mit der Nase auf ein Problem dieser Veranstaltung gestoßen: Die Unterschiede bei Löhnen, Erwerbsquote, Armut und auch Chancengleichheit sind innerhalb des europäischen Staatenbundes enorm.

Allein die Erklärung sozialer Rechte wird daran noch nichts ändern. Entscheidend ist die Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten. An der hapert es schon jetzt. Die Kommission selbst hat, als sie ihren Vorschlag für die Säule der Öffentlichkeit unterbreitete, darauf hingewiesen, dass dieser sich aus dem bereits existierenden europäischen und internationalen rechtlichen Besitzstand ableite. Das heißt: Neu ist an den Vorschlägen nichts. Das Recht auf gleiche Bezahlung von Mann und Frau wurde beispielsweise schon in den Römischen Verträgen von 1957 im Artikel 119 EWG festgeschrieben. 60 Jahre später ist dieses Prinzip noch immer nicht verwirklicht.

Wenn aber die »Säule sozialer Rechte« nur die Zusammenfassung bereits existierender Rechte ist, wozu dann der ganze Aufwand? Um dem Thema mehr Gewicht zu verleihen und Vertrauen wieder zu gewinnen, so hatte es EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gesagt - schon 2014 nach der Wahl zum Kommissionspräsidenten hatte er von einer »letzten Chance« gesprochen, Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial voranzubringen. Und: »Wenn wir der sozialen Fragmentierung und dem Sozialdumping in Europa ein Ende setzen wollen, sollten die Mitgliedstaaten sich spätestens beim Göteborg-Gipfel auf die europäische Säule sozialer Rechte einigen«, bekräftigte Juncker im September 2017 bei seiner Rede zur Lage der Union.

Reichlich spät käme das und ginge nicht weit genug, meinen die europäischen Gewerkschaften; während Unternehmerverbände einen unzulässigen Eingriff in das Prinzip der Subsidiarität fürchten - also das Gebot der Zurückhaltung der EU bei der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zugunsten der Nationalstaaten. Die Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände BDA sprach bei einer Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU im Bundestag mit Blick auf die soziale Säule von »Kompetenzanmaßung«. Die soziale Dimension Europas solle vielmehr über »Wettbewerbsfähigkeit« gestärkt werden. Im übrigen bedeute, so die BDA, ein soziales Europa »für die deutschen Arbeitgeber, dass, anders als in den USA und China, wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit untrennbar zusammengehören«.

Angela Merkel wird wegen der Jamaika-Sondierungen nicht nach Göteborg reisen. Ein Regierungssprecher erklärte aber, die Bundesregierung habe der Erklärung, die in Göteborg unterzeichnet werden soll, im EU-Rat zugestimmt und trage sie mit. Zumindest für die noch amtierende Regierung mag das zutreffen. Wie die Bundesrepublik die ESSR aber letztlich umsetzt, hängt davon ab, wie die Jamaika-Verhandlungen weitergehen. Die FDP hat in ihrem Wahlprogramm klargestellt, die Vorschläge der Europäischen Kommission seien aus ihrer Sicht nicht zielführend: »Jeder Mitgliedsstaat muss nach wie vor für seine eigene Arbeitsmarktpolitik, sein soziales Sicherungssystem und seine finanzielle Unterstützung sozial Schwacher selbst verantwortlich bleiben.« Die Grünen sehen das freilich anders. Auch davon, welcher der Jamaikaner welches Ministerium erhält, hängt ab, wie viel von Göteborg zukünftig in Berlin Wirklichkeit wird - und was Absichtserklärung bleibt.

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