Bremsen auf dem Weg ins »postantibiotische Zeitalter«
Wissenschaftler fordern Paket von Maßnahmen gegen die Zunahme antibiotikaresistenter Erreger. Von Steffen Schmidt
Antibiotikaresistenzen werden zunehmend zum Problem, besonders auf den Intensivstationen der Krankenhäuser, aber auch bei der Behandlung der in vielen Ländern noch verbreiteten Tuberkulose. Zwar lässt sich das Ausmaß der Resistenzen nicht exakt beziffern, wie eine Umfrage von Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin und des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) unter Experten anlässlich der internationalen »World Antibiotic Awareness Week« zeigt. Doch werden allein in Deutschland nach Daten der Krankenkassen jährlich 10 000 bis 15 000 Menschen mit multiresistenten Keimen infiziert, wie Axel Brakhage vom Jenaer Leibniz-Institut für Naturstoffforschung und Infektionsbiologie am Dienstag in Berlin vor Journalisten sagte. Brakhage und weitere Vertreter eines Netzwerks von wissenschaftlichen Einrichtungen unter Führung der Leibniz-Gemeinschaft riefen die neue Bundesregierung auf, den Kampf gegen multiresistente Krankheitserreger stärker zu unterstützen. Die Erforschung neuer Therapien und Diagnoseverfahren erfordere eine verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Kliniken in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften. Forschungsergebnisse müssten schneller als bisher den Patienten zugute kommen.
Insbesondere sei es notwendig, die Entwicklung neuer Diagnoseverfahren zur Feststellung des Erregertyps und seiner Resistenzen besser zu fördern. Die derzeitige Situation verstärke das Problem eher, wie der Intensivmediziner Michael Bauer vom Uniklinikum Jena erläutert. Da bei lebensbedrohlichen Infektionen schnell über die Therapie entschieden werden muss, aktuelle Tests aber erst nach bis zu 72 Stunden Aussagen über Erreger und Resistenz liefern, würden viel zu oft Breitbandantibiotika eingesetzt. Dadurch verstärke sich wiederum das Risiko neuer Resistenzen. Doch sowohl bei der Entwicklung von Diagnostikverfahren als auch neuer Antibiotika dauere es bis zu 14 Jahre vom Nachweis der prinzipiellen Tauglichkeit bis zu einem zugelassenen Produkt. Um diesen Weg abzukürzen, müssten die Strukturen der Forschung zweckmäßiger neu organisiert werden. Insbesondere der Zugang verschiedenster, auch nichtmedizinischer Disziplinen zur klinischen Prüfung und Zertifizierung müsse verbessert werden, meint der Chemiker Jürgen Popp, Direktor des Leibniz-Instituts für Photonische Technologien in Jena.
Helfen würde auch, wenn - wie in den USA - die Zulassung neuer Antibiotika nicht mehr an eine bessere Wirkung als bisherige Wirkstoffe gebunden würde, sondern an ein neues Wirkprinzip. Denn seit Jahrzehnten greifen die meisten »neuen« Antibiotika bereits bekannte Schwachstellen der Erreger an, erinnert Brakhage. Da sich die Mediziner eigentlich möglichst selektiv wirkende Antibiotika wünschen, um möglichst wenige der nützlichen Mikroben im menschlichen Körper umzubringen, ist der Markt für solche Mittel zwangsläufig klein. Deshalb lohnt sich die Entwicklung für eine gewinnorientierte Industrie nicht so wie beispielsweise ein Blutdrucksenker, den Millionen Menschen jahrelang täglich einnehmen. Deshalb sind aus Sicht der Leibniz-Forscher gerade bei den Medikamenten neue Formen öffentlich-privater Zusammenarbeit nötig. Zugleich müsste die öffentliche Finanzierung dieser Medikamententwicklung massiv aufgestockt werden.
Verlässliche, schnelle und bezahlbare Tests für Erreger würden überdies auch helfen, den Verbrauch von Antibiotika in der Medizin zu reduzieren. Denn nach wie vor verordnen niedergelassene Ärzte oftmals Antibiotika, ohne überhaupt zu prüfen, ob eine Virusinfektion vorliegt, bei der das Medikament ohnehin nicht hilft. Andere Maßnahmen, um den Eintritt in das viel zitierte »postantibiotische Zeitalter« zu verzögern, wären noch einfacher: weniger Antibiotika in der Nutztierhaltung. Denn jeder Einsatz dieser Wirkstoffe zwingt die Bakterien, sich zu wehren. Die Mechanismen dafür sind so alt wie Bakterien und Pilze, die sich seit Jahrmillionen einen Rüstungswettlauf liefern.
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