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Waidmanns Heil und Waidmanns Dank
Treibjagd in der Sächsischen Schweiz: Wo in früheren Jahren das Schwarzwild noch Dutzendweise zur Strecke gebracht wurde, warten heute die Freizeitjäger oft vergeblich auf das Jagdglück. Schuld daran ist auch der Klimawandel.
Durch meinen Halbschlaf tönt es »Halali«. Das Wecksignal um sechs Uhr früh ist jedoch in Wahrheit ein Handy-Klingelton. Hastig ziehe ich mich an und sitze wenig später mit allen anderen Jägern und Treibern beim Frühstück im Haus von Hans-Gerald Beyer. Der stattliche Mittfünfziger, im Hauptberuf Bauunternehmer, mit wettergegerbtem Gesicht und einem imposanten grauen Bart hat seit 16 Jahren mitten in der Sächsischen Schweiz die Jagd gepachtet, in den Privatwäldern rund um den Lilienstein.
Soziale Durchmischung bei Blutwurst und Bier
Zweimal im Jahr veranstaltet Beyer Treibjagden in seinem rund 800 Hektar großen Revier: Im Dezember die große Hubertusjagd und Ende Januar noch eine kleinere. Normalweise sind Treibjagden die effektivste Art, des Schwarzwildüberschusses Herr zu werden. Da sie keine natürlichen Feinde haben, vermehren sie sich uneingeschränkt und richten landwirtschaftliche Schäden an, für die Beyer als Jagdpächter aufkommen muss. Doch von Überschuss kann schon seit Jahren keine Rede mehr sein. Vom Klimawandel will Jagdpächter Beyer nicht sprechen, vielleicht eher von einer Klimaverschiebung: Weil hoher Schnee immer öfter bis weit in den April hinein liegen bleibt, überleben nur wenige der März-Frischlinge. Und weil es immer öfter bis tief in den Spätherbst mild ist, halten sich die Schwarzkittel länger als sonst im Flachland auf und denken gar nicht daran, ihre angestammten Winterquartiere zwischen den schützenden Sandsteinfelsen aufzusuchen.
Früher zählten die Rotten viele Dutzend Tiere, heuer sind sie kaum mehr als eine Handvoll groß. Trotzdem verzichtet Beyer nicht auf die Treibjagden, weil er dem jagdlichen Brauchtum eine erdig-strenge Bedeutung beimisst, und da gehört das gemeinschaftliche Jagen einfach dazu. Persönlich lädt sich Beyer Freunde und Kollegen zum Jagen ein. Und penibel achtet er darauf, dass auch bei den Treibern alles stimmt. Denn eine Treibjagd kann noch so gründlich vorbereitet sein - ohne willige Treiber geht das Vorhaben schief. Ohne sie, die in breiter Reihe durchs Unterholz kriechen und durch lautes Rufen und Schreien die Tiere aus den Dickichten scheuchen, kommt kein Jäger zum Schuss.
Anderswo werden beide Gruppen streng und hierarchisch voneinander getrennt, bei Hans-Gerald Beyer ist das anders. Er öffnet seiner ganzen Jagdgesellschaft das eigene Haus und versorgt sie freizügig mit Blutwurst, Brot und Bier. Zum Schlafen findet sich für alle ein Platz, egal ob auf dem Boden, im Keller und oder der Scheune.
Am Sammelplatz beißt frische Morgenluft ins Gesicht. Nebel steigt aus dem Elbtal empor und wabert über die Felder, Zeit fürs erste Jägerlatein. Auf Beyers Räuspern teilt sich die Menge: Dort formieren sich die Schützen, feine Lederstiefel, grüne Mäntel, hier die Treiber, derbe Kleidung, orangefarbene Straßenarbeiterwesten. Beyer hält eine kleine Rede, dann blasen sechs Bläser das »Halali«.
Zuerst geht es durch ein Wäldchen der Elbe entlang. Beyer weist den Jägern ihre Standplätze zu, die sie für die Dauer eines Triebes nicht verlassen dürfen, auch ihre Schussrichtung ist exakt festgelegt. Wir Treiber verteilen uns in breiter Kette im abschüssigen Wald. Unsere Westen sind gut zu sehen, ein tröstlicher Gedanke. Aber noch ist es nicht soweit. Es ist die Stille vor dem Schuss. Holz knackt, Laub raschelt. Der Wald atmet. Auf Kommando durchqueren wir mit lautem »Hussa-Hussa« Dickichte und Schonungen, klettern über Windbruch und Felsen. Ein einzelner Schuss peitscht trocken durch den Wald, dumpf grollt sein Echo zurück. Nach nur 20 Minuten ist der erste Trieb vorbei, Bilanz: nicht eine Sau.
Der zweite Trieb dauert länger, fast zwei Stunden. Zwei Rehe brechen nur vier Meter entfernt an mir vorbei. Erschrocken halte ich still, bis sie im Gestrüpp verschwunden sind. Wieder fällt ein Schuss, der diesmal sein Ziel nicht verfehlt. Während den Jägern die Aufgabe zukommt, bei Bedarf schnell und sicher den Finger zu krümmen, obliegt es den Treibern nicht nur in schweißtreibendem Crosslauf das Wild aus dem Unterholz herauszutreiben. Sie haben auch die Beute zu bergen. Im Unterholz finden wir eine leblose Sau, ihr Fell ist grau und zottig, sieht irgendwie nach Sofa aus. Mausetot ist das Tier, und sauschwer: mit einem anderen Treiber zerre, schleppe und hieve ich es über Stock und Stein bis zum nächsten Waldweg, wo es auf einen Hänger verladen wird. Für Sentimentalitäten bleibt keine Zeit, die Schinderei hat hungrig gemacht.
Gut gelaunte Jäger, erschöpfte Treiber
Auf Beyers Anwesen ist das Schüsseltreiben, wie das Mittagessen in der Waidsprache heißt, in vollem Gange. Noch nie hat Wildschweingulasch so gut geschmeckt. Schweigend schlürfen wir Treiber das heiße Essen. Die Jäger geben derweil gut gelaunt ihr Latein zum Besten, sie reißen Witze, über die man als Treiber nur müde lächeln kann. An einem Balken im Garten hängt der erlegte Schwarzkittel, aufgebrochen, an einem Haken in der Kehle. Anstelle seines Bauchs klafft ein rotes Loch, aus dem es unablässig dampft. Beyers Bass beendet die Pause: Auf, auf zum dritten Trieb!
Wieder werden wir zu einem Wäldchen kutschiert. Erschöpft stolpere ich den anderen nach, in der Ferne hallen Schüsse. »Sauwetter« setzt ein: feiner Regen, der später übergeht in Schneefall. Wer fällt, macht sich dreckig. Wer den Dreck abwischt, verschmiert ihn. Beim vierten Trieb spüre ich kaum noch die Beine. Gelegentlich taumeln wir an Jägern vorbei, die einsam hinter Bäumen warten. Sie haben den ganzen Tag noch keine Sau gesehen, ihnen ist kalt und langweilig. Langsam wird es dunkel.
Die Strecke, wie die Gesamtheit der erlegten Tiere genannt wird, ist am Ende kurz: zu der einen Sau ist noch ein Fuchs gekommen. Vor zwei Jahren waren es neun Sauen, vor fünf Jahren dreißig. Trotzdem ist Beyer zufrieden: »Das Jagdglück ist so wechselhaft wie die Natur!« Auf seinem Hof werden die beiden erlegten Tiere auf ein Bett aus Tannenzweigen gelegt. Ringsum lodern Feuer, weil es dunkel ist, weil die Kälte in die Beine zwickt, und weil es dem Brauch entspricht. Beim Schlusszeremoniell erhalten die glücklichen Schützen je einen Tannenzweig. Waidmanns Heil und Waidmanns Dank. Die Bläser blasen »Sau tot« und ein letztes »Halali«.
Abends in der Dorfgaststätte: Die Männer haben sich fein gemacht, frisches Hemd und fescher Janker. Schnell ist der Duschbadduft im Zigarrenqualm erstickt. Je mehr sich die Stimmung unter den Jägern lockert, umso stiller wird es am Treibertisch. Ehrlich gesagt sind wir fix und fertig. Die ersten gehen - und verpassen den Höhepunkt: die »Hohnsteiner Jagdhornbläser« mit einem Potpourri aus Jagdsignalen und beliebten Melodien. Die Blasmusik stimmt versöhnlich. Ich nicke ein am Tisch, durch meinen Halbschlaf tönt es »Halali«.
Die politische Wende 1989 drang bis tief in die sächsischen Wälder vor: aus pflegeintensiven, gleichaltrigen Nadelwäldern sollen wieder naturnahe und leistungsfähige Mischwälder werden. Zu diesem »ökologischen Waldumbau« gehört auch die Regulierung des im Wald lebenden Wildes. Überhöhte Bestände an Scharz-, Rot-, Reh-, Dam- und Muffelwild fügen dem Wald und der Landwirtschaft empfindlichen Schaden zu.
Sachsen ist zu knapp einem Drittel bewaldet, die eine Hälfte des Waldes gehört dem Freistaat, die andere Privatleuten. Die Jagd gehört dem, dem der Wald gehört: Im Staatsforst wird sie von den Verwaltungsjagdämtern organisiert, im Privatwald wird sie verpachtet. Über 2000 private Jäger sind in sächsischen Wäldern auf der Pirsch: Für die Dauer eines Jahres bekommen sie einen Pirschbezirk zugewiesen. Der »Jahresjagderlaubnisschein« für ein Revier, in dem hauptsächlich Schwarzwild geschossen wird, kostet 350 Euro pro Jahr.
Im Jagdjahr 2005 wurden in Sachsen 29 378 Stück Schwarzwild, 34 576 Stück Rehwild, 4356 Rotwild, 475 Stück Damwild und 627 Stück Muffelwild erlegt.
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