Selbstentfesselungskünstler

Wenn der Lobgesang auf die Selbstverwirklichung zu kurz greift

  • Wolfgang M. Schmitt
  • Lesedauer: 5 Min.

Nicht nur die Schieflage der Nation lässt sich an deutschen Kinokomödien ablesen, auch ihre Ein- und Auslassungen über die Arbeitswelt sind von bemerkenswerter Bedenklichkeit: In »Final Fack«, dem dritten Teil der »Fack ju Göhte«-Reihe, geht Lehrer Müller (Elyas M’Barek) mit seinen Krawallschülern des Goethe-Gymnasiums ins Berufsinformationszentrum. Dort sollen sie am Computer einen umfangreichen Fragebogen zu ihren Interessen und Qualifikationen ausfüllen, damit die Algorithmen berechnen können, für welche Berufe Chantal, Danger und die anderen geeignet sind. Das Ergebnis ist für die Schüler ernüchternd: Altenpflege, Klärwerk und Media-Markt sollen die künftigen Arbeitsplätze sein. Die Schüler begehren auf, werfen später sogar Molotowcocktails auf den Schulhof (allerdings in Plastikflaschen), denn fest steht für sie: Diese Jobs wollen sie nicht.

Träume, ja, die habe sie schon, antwortet eine Schülerin auf die Frage des entrüsteten Lehrers Müller, doch diese hätten eben nichts mit dem Beruf zu tun. Einmal davon abgesehen, dass »Final Fack« in der für deutsche Komödien typischen Arroganz jene Berufe abwertet, für die man weder Abitur noch Studium braucht, haben die Schüler in ihrer grundsätzlichen Rebellion durchaus recht: 40 Jahre lang einen Beruf auszuüben, der einen eigentlich überhaupt nicht interessiert, ist nicht gerade eine sonnige Aussicht. Dass dies aber die Realität vieler Menschen ist, bleibt meist unausgesprochen - auch von »Final Fack«. Zwar wurde immer schon über Jobs geklagt und der Montagmorgen verflucht, doch vermehrt hinterfragt wird das Erwerbstätigenleben mit 40-Stunden-Woche erst seit einigen Jahren auch jenseits linker Theorieproduktionen. Sehr arbeitsame Autoren verfassen ständig Loblieder auf Müßiggänger und Faulenzer oder geben in Ratgebern Tipps, wie dem schnöden Arbeitsalltag zu entkommen ist. Der Brite Robert Wringham ist einer von ihnen, der Titel seines Buches gibt bereits die eskapistische Stoßrichtung vor: »Ich bin raus«. Das mit autobiografischen Anekdoten angereicherte Sachbuch will die »Selbstentfesselungskunst« lehren, das Vorbild für diese ist der berühmte Zauberer Harry Houdini, der sich noch aus den aussichtslosesten Situationen befreien konnte. Zu Houdinis Shows strömten die Massen, um zu sehen, wie sich der Magier aus Fesseln und Ketten löste. Wringham erkennt in diesem Phänomen mehr als nur ein unterhaltsames Spektakel: »Houdinis Auftritte waren Metaphern beziehungsweise Pantomimen der allgemein vorherrschenden Fluchtfantasien. Befreiung aus jenen Fallen, die von den unbekannten Architekten der neuen Ökonomie und ihrer Zwänge eingeführt worden waren«, erklärt der Autor.

Wringham möchte Tricks verraten, wie die Befreiung aus den ökonomischen Fesseln funktionieren kann. Houdini wird so, auch wenn von Wringham diese Analogie nicht gezogen wird, zum Antipoden des Odysseus, der sich an den Schiffsmast fesseln ließ, um nicht den verlockenden Gesängen der Sirenen nacheilen zu müssen. Odysseus, so beschreiben es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der »Dialektik der Aufklärung«, war damit der erste Bürger, der bloß noch von Ausbrüchen und Grenzüberschreitungen träumt, doch sie nicht in die Tat umsetzt. Mit »Ich bin raus« soll sich dies aber ändern. Das Buch ruft seinen Lesern zu: Kündigen Sie Ihre Jobs oder arbeiten Sie wenigstens nur Teilzeit und gehen Sie Ihren Leidenschaften nach! Einfacher gesagt als erklärt, wie das tatsächlich gehen soll. Zwar ist Wringhams Wut auf das uneigentliche Leben in den Großraumbüros bisweilen amüsant zu lesen, doch die versprochenen Auswege aus der beruflichen Tretmühle sind entweder Sackgassen oder nur gangbare Pfade für jene, die ohnehin finanziell relativ unabhängig sind. Der Hinweis, am besten ein eigenes kleines Unternehmen mit einer innovativen Idee zu gründen, mag zwar im kreativen Sektor eine Option darstellen, für die meisten Menschen in Ausbildungsberufen könnte dies aber schwierig werden. Wie sehr eine solche Selbstständigkeit auch wiederum ein oft prekäres Leben bedeutet, haben nicht zuletzt die sogenannten Ich-AGs gezeigt.

Wringham scheint in einer Blase zu leben: »Reduzieren Sie die Ausgaben um fünfundsiebzig Prozent«, empfiehlt er, damit man sich früher zur Ruhe setzen kann. Für Normalverdiener ist das unmöglich, für Geringverdiener wäre es tödlich - sie müssten schon auf Heizung und fließend Wasser verzichten, um 75 Prozent einzusparen. Regelrecht zynisch wird der Ratgeber, wenn schließlich noch die Zeitarbeit gelobt wird, denn so könne eben nicht nur der Arbeitgeber, sondern auch der Angestellte problemlos kündigen und geradewegs in die Freiheit marschieren. Wovon aber soll der sich selbst freistellende Zeitarbeiter dann seine Miete zahlen? Auch da hat Wringham einen nützlichen Tipp auf Lager: Man soll einfach nach Berlin ziehen, dort seien die Mieten billig. Etwa sei Kreuzberg »in kultureller Hinsicht sehr lebendig und relativ preisgünstig«.

Sobald es konkret wird, begibt sich Wringham in weltfremde Peinlichkeiten oder wird floskelhaft: »Fliegt einfach los, ihr Lieben, und genießt eure Freiheit«, rät er den noch Unentschlossenen. 15 000 Euro im »Entfesselungsfonds« würden schon reichen, für einen Neuanfang. Sicherlich sei es schön, wenn irgendwann ein Grundeinkommen mehr Freiheit ermöglichen und die bürokratische Kette der politischen Elite gesprengt würde, doch eigentlich sei das alles nicht vonnöten, um sich selbst zu befreien. Bisweilen klingt Wringham dann auch nicht wie ein Müßiggänger, der andere zum Aussteigen anstacheln will, sondern eher wie ein Silicon-Valley-Vertreter, der sich gegen Bürokratie und repräsentative Demokratie stellt, um einen radikalen Individualismus einzufordern, der disruptiv alte Ordnungen auflöst, nur um eine neue, ständig flexible und mobile Ökonomie zu etablieren. Besonders in den Kapiteln zum Minimalismus, die dazu aufrufen, sich von seinen materiellen Besitztümern (und Zeitungsabonnements) zu befreien, werden jene Phrasen implizit aufgegriffen, die beispielsweise der Pay-Pal-Gründer Peter Thiel gern drischt. Jeder soll seines Glückes Schmied werden, betont das Nachwort unmissverständlich: »Heutzutage der Falle zu entkommen, ist eine persönliche Entscheidung. Es erfordert keine größeren politischen Veränderungen, und das gesellschaftliche Bewusstsein muss sich auch nicht wandeln.« Eine ähnliche Antwort hält auch »Final Fack« für die rebellischen Schüler bereit: Sie sollen sich ein bisschen selbst verwirklichen - so wird Danger wegen seiner an Jackson Pollock erinnernden Malwut überraschend an einer Kunstakademie angenommen -, aber keinesfalls dürfen sie das System in Frage stellen. Diese verkürzte Kritik an der Wirtschaft, die partout nicht kapitalismuskritisch sein will, ist ein bedenklicher Trend, mit dem sich offenbar viele Bücher und Kinotickets verkaufen lassen.

Robert Wringham: Ich bin raus. Wege aus der Arbeit, dem Konsum und der Verzweiflung, Wilhelm Heyne Verlag, 334 S., geb., 16,99 €.

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